Comedy-Sendung «Müslüm Television» wegen Auftritt von Erich Hess beanstandet

4402

Mit Ihrer e-Mail vom 30. Oktober 2016 haben Sie den Auftritt von Nationalrat Erich Hess in der Sendung „Müslüm TV“ von Fernsehen SRF vom 28. Oktober 2016 beanstandet. Ihre Eingabe erfüllt die formalen Voraussetzungen für eine Beanstandung. Daher kann ich auf sie eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

„Vor vier Jahren wurde eine Sendung (Top Secret) mit der BDP-Politikerin Vania Kohli verschoben, weil diese zu nahe an den Wahlen sei. Dies, obwohl Frau Kohli in dieser Sendung als Privatperson ohne jeglichen Bezug zu ihrer politischen Karriere auftrat. Nun, vier Jahre später, kandidiert ein gewisser Erich Hess für das Berner Stadtpräsidium und eine Sendung mit ihm (Müslüm TV) wird kurz vor den Wahlen ausgestrahlt. Dies, obwohl Herr Hess in dieser Sendung ganz klar als SVP-Politiker auftritt und eine entsprechende Plattform erhält.

Wie kommt es zu diesem Kurswechsel innerhalb von nur vier Jahren? Weshalb wurde die Sendung mit Frau Kohli verschoben, jene mit Herrn Hess wird aber ausgestrahlt?“

B. Die zuständige Stelle bei SRF erhielt Gelegenheit, sich zu Ihrer Beanstandung zu äußern. Herr Martin Schilt, Redaktionsleiter Programmentwicklung, schrieb:

„X aus Bern bezieht sich in seiner Beanstandung Nr. 4402 an den Ombudsmann auf einen Fall, der mehr als vier Jahre zurück liegt : Die BDP Politikerin und Berner Stadtratskandidatin Vania Kohli war Kandidatin in der Quizshow ‚Top Secret‘. Die Ausstrahlung der aufgezeichneten Sendung war vor der Stadtratswahl terminiert. Die Chefredaktion von SRF hat damals entschieden, die Folge mit Vania Kohli auf einen Zeitpunkt nach den Wahlen zu verschieben. X beanstandet in seiner Beschwerde nun, dass SRF vier Jahre später im Fall von Erich Hess einen Kurswechsel vollzogen habe und möchte wissen, wie es dazu kam.

Die Programmentwicklung als verantwortliche Redaktion der Sendung Müslüm TV nimmt dazu wie folgt Stellung:

In den publizistischen Leitlinien von SRF, die online abrufbar und für alle einsehbar sind, sind Termine vor Wahlen und Abstimmungen geregelt.[1] Es geht dabei um die Ausstrahlung der Sendung. Bei der Sendung ‚Müslüm TV‘ werden die Inhalte mit einer sehr langen Vorlaufzeit vorproduziert. Das hat einerseits mit der dicht gedrängten Agenda des Künstlers zu tun und andererseits mit der sehr aufwändigen Produktionsweise. Das Interview mit Erich Hess wurde am 3. Mai 2016 aufgezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt stand die Kandidatur für den Gemeinderat, respektive das Stadtpräsidium von Erich Hess noch nicht fest. Erst knapp drei Monate später, am 29. Juli 2016 gab Erich Hess seine Kandidatur bekannt.

SRF hat sich bei der Ausstrahlung der Sendung ‚Müslüm TV‘ an die publizistischen Leitlinien gehalten. Dort wird festgehalten, dass in den letzten drei Wochen vor dem Urnengang keine Einzelauftritte von Kandidierenden oder Exponenten mehr zulässig sind, die ihnen eine einseitige Plattform bieten. Die Sendung ‚Müslüm TV‘ mit Erich Hess wurde über vier Wochen vor dem Wahlgang ausgestrahlt und war daher zulässig.

Dennoch werden Auftritte von Kandidierenden ab 8 Wochen vor der Wahl in der Chefredaktion besprochen und es findet eine Abwägung statt. Massgebend für den Entscheid ist dabei die Frage, inwiefern sich Kandidierende durch einen Einzelauftritt in einer SRF Sendung gegenüber ihren Konkurrentinnen und Konkurrenten einen Vorteil verschaffen können. In Absprache mit der Chefredaktion haben wir entschieden, dass die Sendung am 28. Oktober 2016 ausstrahlt werden darf und dies aus nachfolgender Überlegung:

Im vorliegenden Fall bot die Sendung ‚Müslüm TV‘ Erich Hess nicht eine Plattform, um ungehindert sein politisches Programm zu präsentieren. Vielmehr musste sich Erich Hess in einem kontroversen Diskurs in einem unüblichen Setting seinem ‚Antagonisten‘ stellen. In der Stadt Bern gehören die Wortgefechte zwischen Müslüm und Erich Hess seit langem zum kultur(-politischen) Geplänkel. Die bevorstehende Wahl war auch nicht Thema des Gesprächs, da zur Zeit der Aufzeichnung noch gar nicht feststand, dass Erich Hess sich als Gemeinderatskandidat aufstellen lässt. Die Sendung hat dem Kandidaten auch keine einseitige oder gar werberische Plattform geboten. Im Gegenteil: Erich Hess traf mit Müslüm auf (s)einen Gegenspieler, der bekanntermassen und pointiert die entgegengesetzten politischen Positionen vertritt, was in der Sendung auch deutlich zum Ausdruck kam. Die Meinungsbildung des Publikums wird aus Sicht von SRF durch die Ausstrahlung nicht beeinträchtigt.

Was beim Entscheid ebenfalls berücksichtigt wurde, ist die Tatsache, dass Erich Hess anders als Vania Kohler vor vier Jahren nicht für den achtzig Sitze zählenden Berner Stadtrat kandidiert, sondern für den Gemeinderat. Bis auf wenige Aussenseiter sind die Kandidatinnen und Kandidaten für den fünfköpfigen Gemeinderat dem Stimmvolk bereits bestens bekannt. TV- oder Radioauftritte vier bis acht Wochen vor den Wahlen haben bei diesen Politikerinnen und Politikern einen viel geringeren Einfluss als bei den viel weniger bekannten Kandidatinnen und Kandidaten für das Parlament.

SRF hat keinen Kurswechsel vorgenommen, sondern in der zulässigen aber dennoch heiklen Phase die nötige Abwägung sorgfältig vorgenommen.“

C. Damit liegt die Antwort von SRF auf Ihre Frage auf dem Tisch, und ich komme nun zu meiner eigenen Beurteilung. Was sind die Fakten? Am 27. November 2016 wählen die Stimmberechtigten der Stadt Bern den Stadtrat (Legislative), den Gemeinderat (Exekutive) und den Stadtpräsidenten. Nationalrat Erich Hess kandidiert sowohl auf der SVP-Liste für den Gemeinderat[2] als auch als Stadtpräsident[3]. Um den fünfköpfigen Gemeinderat, der im Proporzwahlverfahren gewählt wird, konkurrieren sechs Listen mit insgesamt 25 Kandidierenden.[4] Für das Stadtpräsidium, das im Majorzverfahren ermittelt wird, kandidieren neun Personen. Man rechnet für die Wahl des Stadtpräsidenten oder der Stadtpräsidentin mit einem zweiten Wahlgang. Dieser wird am 15. Januar 2017 stattfinden.

Vor Wahlen und Abstimmungen gelten für Radio und Fernsehen besondere Sorgfaltspflichten, und konzessionierte Sender müssen das Vielfaltsgebot beachten. Das heisst: Sie dürfen nicht bestimmte Kandidaten oder Kandidatinnen auf Kosten anderer Kandidierender bevorzugen. Es soll Chancengleichheit herrschen. Wenn ein Kandidat als einziger kurz vor den Wahlen eine Auftrittsmöglichkeit erhält, dann handelt es sich um einen Verstoss gegen das Radio- und Fernsehgesetz. Denn ein solcher Auftritt ist geeignet, die Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger einseitig zu beeinflussen. Anschauliches Beispiel dafür war das Porträt des Freiburger Staatsrats Pascal Corminboeuf in „Schweiz Aktuell“ kurz vor den Staatsratswahlen 2006. Die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) hat dies mit ihrem Entscheid vom 30. März 2007, wenn auch knapp mit 4:3 Stimmen, als Programmrechtsverletzung taxiert.[5]

Nun stellen sich vier Fragen:

  1. Gilt die besondere Sorgfaltspflicht nur für Informationssendungen oder auch für Unterhaltungssendungen?
  2. Gilt die besondere Sorgfaltspflicht auch für Wahlen und Abstimmungen, an denen nur ein Teil des Publikums teilnehmen kann?
  3. Gilt die besondere Sorgfaltspflicht auch dann, wenn die kandidierende Person gar nicht für sich werben kann, also nicht positiv dargestellt wird?
  4. Gilt die besondere Sorgfaltspflicht auch dann, wenn die Sendung nicht in die heiße Wahlkampfphase fällt?

Ich versuche, die vier Fragen zu beantworten.

1. Informationssendungen und Unterhaltungssendungen. Es ist ein alter Irrglaube, dass die Politikvermittlung nur über die eigentlichen Informationskanäle läuft. Längst orientieren sich ganze Heerscharen von Menschen politisch über unterhaltende Mediengefäße (wie „Heute Show“, „Giacobbo/Müller“, „Die Anstalt“) oder über Serien (wie „House of Cards“) oder über Social Media. Es ist darum nicht entscheidend, in welchem Format Kandidierende vor Wahlen auftreten. Oft erreichen sie über unterhaltende Formate ganz andere Wählerschichten als über Informationsformate.

2. Teilpublikum. In der Schweiz ist nur in eidgenössischen Volksabstimmungen quasi das Gesamtpublikum – nämlich die Gesamtheit der mündigen Schweizerbürgerinnen und Schweizerbürger – stimmberechtigt. Im Fall von Wahlen handelt es sich immer um ein Teilpublikum, selbst bei eidgenössischen Wahlen: Die Kandidierenden sowohl für den Nationalrat als auch für den Ständerat können nur im jeweiligen Kanton von den dort Stimmberechtigten gewählt werden. Sendungen von Radio und Fernsehen, die sich mit Wahlen befassen, richten sich daher stets an ein Publikum, das nur zum Teil wahlberechtigt ist. Doch auch dann gilt die besondere Sorgfaltspflicht. Denn entscheidend ist letztlich nicht die Zahl der Betroffenen, sondern ihr Gewicht in Bezug auf den Wahlentscheid: Wenn beispielsweise das Fernsehen vor den Wahlen im Kanton Basel-Stadt die Basler Zuschauerinnen und Zuschauer einseitig beeinflusst und diese wählen entsprechend, dann kann das wahlentscheidend sein. Gleiches gilt für städtische Wahlen, beispielsweise in Bern.

3. Positive oder negative Darstellung. Man muss auch mit der Vorstellung aufräumen, dass Kandidierende oder Parteien nur dann von Medienauftritten profitieren, wenn sie positiv dargestellt werden. Medienwissenschaftliche Untersuchungen haben immer wieder gezeigt, dass in allen eidgenössischen Wahlen seit 1999 Christoph Blocher und die SVP in den Medien mit Abstand am meisten erwähnt wurden, aber mehrheitlich neutral oder negativ, ganz selten positiv. Die SVP wurde aber in all den Wahlen seit 1999 stärkste Partei.[6] Ähnliches gilt für die jüngsten amerikanischen Präsidentschaftswahlen: Donald Trump hatte eine überwiegend negative Medienberichterstattung. Der Schweizer Christoph Glauser hat mit seinem Findmaschine ArgYou zusammen mit der Université de Neuchâtel und der North Eastern University of Boston in sämtlichen Suchmaschinen und Social Media-Suchen die Nachfragedaten analysiert und seit Februar einen deutlichen Überhang an Trump-Nachfragen gefunden.[7] Es zeigte sich, dass Präsenz alles ist – völlig egal, ob negativ konnotiert, mit reiner Provokation und mit lauter Lügen. Es gibt daher eine klare Korrelation zwischen der Zahl der Medienauftritte und dem Wahlerfolg.

4. Heisse Wahlkampfphase. Es gibt verschiedene Ansichten darüber, was die heisse Wahlkampfphase ist. In den Publizistischen Leitlinien von SRF sind zwei Zeiträume definiert: Ab acht Wochen vor dem Wahltermin muss die Chefredaktion darüber entscheiden, ob ein Kandidat in einer Sendung auftreten darf. Ab drei Wochen vor dem Wahltermin darf kein Kandidat mehr allein, ohne ausgewogene Runde, auftreten. Die UBI hat demgegenüber im Entscheid b.713 vom 26. Oktober 2015 bekräftigt, dass Wahl- und Abstimmungskämpfe zwei Monate vor dem Termin zu laufen beginnen.[8] Gegen diese Festlegung und auch gegen die Anwendung dieser Acht-Wochen-Frist in meinem Schlussbericht 4249 zur St. Galler Regierungsratskandidatur von Esther Friedli (Beitrag in der Sendung „10 vor 10“)[9] gab es Kritik von SRF: Das Erfordernis erhöhter Sorgfaltspflicht bereits acht Wochen vor einem Wahl- oder Abstimmungstermin sei zu streng, man könne dann viele politische Akteure gar nicht mehr auftreten lassen. Wie auch immer: Die Festlegung der heissen Phase auf die letzten drei Wochen vor dem Termin ist jedenfalls überholt, da muss SRF über die Bücher. Die längere Phase ist schon darum nötig, weil die Stimmberechtigten heute schon mindestens einen Monat vor dem Termin abstimmen oder wählen können. Wahrscheinlich wird sich der von allen Seiten akzeptierte Zeitraum bei sechs Wochen einpendeln.

Was ist das Fazit? Nationalrat Erich Hess hatte einen Auftritt in der Sendung „Müslüm TV“. Dabei hat er sich durchaus politisch geäussert: Seine Grundeinstellung kam zum Ausdruck. Er wurde zwar von Müslüm auch auf die Schippe genommen, da ist er ein dankbarer Partner, aber er hatte einen Auftritt, und das zählt. Der Auftritt fand vier Wochen vor den Wahlen statt, also eindeutig in der von UBI und Ombudsstelle angenommenen heissen Phase. Da gelten die erhöhten Sorgfaltspflichten, da spielt das Vielfaltsgebot. Ich muss daher der Argumentation von Herrn Schilt widersprechen. Die zuständigen Stellen bei SRF hätten die nötigen Vorkehren treffen müssen, dass die Sendung entweder schon im September oder dann nach den Stadtberner Wahlen ausgestrahlt wird. Sie war dazu angetan, die Meinungsbildung der in der Stadt Bern Wahlberechtigten einseitig zu beeinflussen. Darum pflichte ich Ihrer Beanstandung bei.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

[1] http://www.srf.ch/unternehmen/unternehmen/qualitaet/publizistische-leitlinien-srf, S. 58/59

[2] http://www.bern.ch/themen/stadt-recht-und-politik/abstimmungen-und-wahlen/gemeindewahlen/gemeindewahlen-2016-1/wahlvorschlaege/listen-fuer-die-gemeinderatswahlen-1/svp

[3] http://www.bern.ch/themen/stadt-recht-und-politik/abstimmungen-und-wahlen/gemeindewahlen/gemeindewahlen-2016-1/wahlvorschlaege/kandidierende-fuer-das-stadtpraesidium-1#erich-hess

[4] http://www.bern.ch/themen/stadt-recht-und-politik/abstimmungen-und-wahlen/gemeindewahlen/gemeindewahlen-2016-1/wahlvorschlaege/listen-fuer-die-gemeinderatswahlen-1 Dass Sie selber Kandidat auf der FDP-Liste sind, spielt für meine Stellungnahme keine Rolle. Sie würde gleich ausfallen, wenn Sie kein Kandidat wären.

[5] http://www.ubi.admin.ch/x/b_545.pdf

[6] Vgl. zum Beispiel http://www.foeg.uzh.ch/dam/jcr:00000000-13a2-35bc-ffff-fffff9958186/Politikanalyse_Nationalratswahlen2007.pdf

[7] http://www.persoenlich.com/digital/argyou-war-viel-genauer-als-alle-prognosen-und-umfragen

[8] http://www.ubi.admin.ch/x/b_713.pdf

[9] https://www.srgd.ch/de/aktuelles/news/2016/04/25/10vor10-beitrag-uber-quereinsteiger-bei-der-svp-beanstandet/

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