«Sex im Rundfunk ist nicht einfach unsittlich»
Gehäuft Sexszenen in einem Spielfilm, Gespräche über Sex in einem journalistischen Beitrag: Sofort treffen Beanstandungen ein, in denen der Verfall der Sittlichkeit beklagt wird. Ombudsmann Roger Blum über das heikle Thema aus medienrechtlicher Sicht.
«Anfang 1968 kam der Film ‹Das Wunder der Liebe› von Oswalt Kolle in die Schweizer Kinos. Er erregte Aufsehen, denn noch nie zuvor hatte ein Streifen das Thema Sexualität derart freizügig behandelt. Zuschauerinnen und Zuschauer aus Kantonen, die den Film zensuriert oder gar verboten hatten, strömten in jene Kantone, die den Film ungekürzt freigegeben hatten.
Wenige Wochen danach gingen die Studierenden auf die Strasse. Die Revolte, die in Kalifornien begonnen hatte und die dann auch in Europa, vor allem in Paris, Berlin und Zürich, zum Ausbruch kam, richtete sich gegen die geltende gesellschaftliche Ordnung, gegen die bürgerliche Moral, gegen den weiter grassierenden Faschismus (‹Unter den Talaren – Muff von tausend Jahren›), gegen den Vietnamkrieg, gegen die Medienkonzentration (‹Enteignet Springer!›) und gegen die erstarrte, mit der Wirtschaft unter einer Decke steckende Bürokratie (‹L’imagination au pouvoir!›). Es war die Zeit der Kommunen und der freien Liebe, aber auch die Zeit von Sit-ins und Strassenschlachten.
Einfluss der 68er-Bewegung
Kurzfristig erreichte die 68er-Bewegung wenig, langfristig aber beeinflusste sie Gesellschaft und Staat enorm. Die verklemmte, prüde Moral der unmittelbaren Nachkriegszeit wich einem freieren, toleranteren Denken, das sich auch in der Gesetzgebung niederschlug. Die Kantone schafften die Filmzensur ab. Strafvollzugsrecht, Eherecht und Kindsrecht wurden dem Zeitgeist angepasst. Vieles, was zuvor tabu war, war jetzt öffentliches Thema, auch die Sexualität. Sexszenen in Filmen waren nichts Aussergewöhnliches mehr, ebenso Radio- oder Fernsehsendungen, in denen über Sex gesprochen wurde.
Es fällt aber auf, dass in letzter Zeit sofort Beanstandungen eingehen, wenn in gestalteten Sendungen oder in Spielfilmen, die in den Radio- oder Fernsehkanälen von SRF ausgestrahlt werden, Sex eine überdurchschnittliche Rolle spielt. Hat sich die öffentliche Moral wieder in die konservative Richtung verändert? Oder gibt es eine Minderheit von Bürgerinnen und Bürgern, die sich gar nie auf die Veränderungen im Nachgang der 68er-Bewegung eingelassen hat, und die sofort aufbegehrt, wenn ihre strengen Moralvorstellungen tangiert sind? Wir wissen es nicht genau. Entscheidend ist aber, dass Radio und Fernsehen in der Schweiz durch Artikel 4 des Radio- und Fernsehgesetzes gehalten sind, die öffentliche Sittlichkeit nicht zu gefährden. Dies ist die Grundregel auch für die Ombudsstelle: Kritikwürdig ist, was gegen die vorherrschenden Moralvorstellungen verstösst. Im Bereich der Sexualität sind das vor allem Voyeurismus und Pornographie.
«Hat sich die öffentliche Moral wieder in die konservative Richtung verändert? Oder gibt es eine Minderheit, die sich gar nie auf die Veränderungen im Nachgang der 68er-Bewegung eingelassen hat?»
Spiegelung der gesellschaftlichen Realität
So hat die Radiosendung ‹Auf der Suche nach dem Kick beim Sex› (‹Doppelpunkt›, Radio SRF 1, 17. Mai 2016) nichts anderes als die gesellschaftliche Realität gespiegelt: Sie zeigte in vier Kurzreportagen, wie Menschen nach Wegen suchen, um den Sex abwechslungsreich und lebendig zu erhalten. Sie lief um 20 Uhr und war allenfalls heikel, wenn Minderjährige mithörten. Aber insgesamt handelte es sich um einen aufklärenden Beitrag.
Auch die Fernsehserie ‹Liebesleben: Im Bett mit Herr und Frau Schweizer› und namentlich die erste Folge, in der es um ‹das erste Mal› ging (Fernsehen SRF 1, 19. Mai 2016), gefährdeten die öffentliche Sittlichkeit nicht, denn erstens hat die Journalistin die befragten Paare auf subtile, einfühlende Art zum Erzählen gebracht, und zweitens lief die Sendung so spät, dass Jugendliche im Prinzip nicht zuschauten.
Die Alterslimite besser beachten
Im Kriminalfilm ‹Wilde Nächte› der Serie ‹Der Kommissar und das Meer› (Fernsehen SRF 1, 9. August 2016) spielt ein sexsüchtiger Immobilienmakler eine Hauptrolle. Die kurzen Sexsequenzen taxierte ich im Unterschied zum Beanstander als harmlos – mit einer einzigen Ausnahme, die aber höchstens für Kinder hätte schockierend sein können. Der Film wurde aber im Abendprogramm gesendet. Etwas heikler war es bei ‹Ein Zimmer für Maria Santos›, Folge 16 der 3. Staffel der Serie ‹Grand Hotel› (Fernsehen SRF 1, 1. Oktober 2016), wo eine Hinrichtung mit der Garotte in Spanien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gezeigt wird. Im Kontext der Geschichte sind diese und andere harte Szenen für Erwachsene zumutbar, nicht aber für Kinder. Der Film wurde an einem Samstagnachmittag ausgestrahlt, so dass Kinder durchaus zum Publikum gehören konnten. Gemäss der Schweizerischen Kommission Jugendschutz im Film (JIF) galt er offiziell als jugendfrei, mir schien aber, dass er mit einer Alterslimite hätte versehen werden müssen.
Gegen die zweitmalige Ausstrahlung des Films ‹Feuchtgebiete› zu später Nachtstunde (Fernsehen SRF 1, 17. August 2016) gingen 43 Beanstandungen von insgesamt 48 Personen ein. Sie erhoben den Vorwurf, der Film sei ekelerregend, pervers, voller Pornographie, moralisch und ethisch nicht vertretbar.
Nach Prüfung aller Argumente und des Films selber musste ich feststellen: Der Film, der sich auf den gleichnamigen Roman von Charlotte Roche stützt, ist künstlerisch wertvoll, vor allem dank der starken schauspielerischen Leistung der Hauptdarstellerin, der Tessinerin Carla Juri. Er wurde von der Schweizerischen Kommission Jugendschutz im Film (JIF) ab dem 16. Altersjahr freigegeben, allerdings mit der Empfehlung, ihn erst ab 18 anzusehen. Er kann für sich die Kunstfreiheit beanspruchen. Gleichzeitig sieht man ihn sich mit Widerwillen, ja Abscheu an. Es handelte sich um einen Grenzfall. Ich empfand ihn letztlich als künstlerisch überhöhte und verbrämte Pornographie und kam zum Schluss, dass es unklug war, ihn ein zweites Mal auszustrahlen. 2015 hatte es gegen die Ausstrahlung keine Beanstandung gegeben.»
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