Fernsehen SRF, «Tagesschau» über die Voto-Analyse beanstandet

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Mit Ihrer E-Mail vom 31. März 2017 beanstandeten Sie die «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens SRF vom 30. März 2017, und dort den Bericht über die Nachbefragung «Voto» zur Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform III. Ihre Eingabe erfüllt die formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann folglich darauf eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

„Der Aufhänger der Tagesschau vom Schweizer Fernsehen, dass 75% der Stimmbürger überfordert war finde ich inakzeptabel. Eine solche Falschaussage darf das Schweizer Staatsfernsehen nicht verbreiten.

Der Grossteil der Abstimmenden konnte sich, wenn auch nicht ohne Zweifel, zu einen Ja oder Nein entscheiden. Mehr wurde von Stimmvolk auch nicht verlangt. Alle die Überfordert waren haben leer eingelegt, oder sind gar nicht abstimmen gegangen. Da die Stimmbeteiligung über 25% der Stimmberechtigten war kann die Behauptung des Schweizer Fernsehen somit nicht Stimmen.

Die höchste politische Macht der Schweiz, zwischen den Zeilen, als Unfähig zu bezeichnen grenzt an einen Staatsputsch.

Ich bin mir sicher, das die Anzahl der Stimmabstinenten durch diese Aussage zunehmen wird. Da die Stimmbeteiligung schon jetzt mehrheitlich unter 50% liegt, werden die Abstimmungen zunehmend zu einer ‚Volklore-Theater-Alibiübung‘. Vom Schweizer Fernsehen erwarte ich gerade das Gegenteil.

Falls keine Schritte in die andere Richtung unternommen werden, kann ich den Fernsehgebühren nicht mehr zustimmen. Ich befürchte sogar, das sich das Schweizer Fernsehen damit sein eigenes Grab geschaufelt hat.

In der Hoffnung auf eine informative Gegendarstellung verbleibe ich mit freundlichen Grüssen.“

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die „Tagesschau“ antwortete Herr Franz Lustenberger wie folgt:

„Mit Mail vom 31. März beanstandet Herr X den Beitrag der Tagesschau über die Voto-Studie zur Abstimmungsvorlage vom 12. Februar über die Unternehmenssteuerreform III. Er kritisiert insbesondere die Aussage, dass knapp drei Viertel der Befragten mit der Abstimmungsfrage überfordert gewesen seien.

Voto-Analysen

Seit dem Jahr 1977 werden nach allen eidgenössischen Volksabstimmungen im Auftrag des Bundesrates Nachbefragungen durchgeführt, um die Motive der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für ein Ja, beziehungsweise ein Nein an der Urne zu verstehen. Diese Nachbefragungen waren bisher bekannt als die sogenannten Vox-Analysen. 2016 hat der Bundesrat den Auftrag mittels öffentlicher Ausschreibung neu vergeben. Das Projekt wird nun unter dem Namen Voto und unter neuer Verantwortung geführt.

Beteiligt am Projekt sind das Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften Fors in Lausanne und das Zentrum für Demokratie (ZDA) in Aarau; diese beiden Institute führen die Umfragen in Zusammenarbeit mit dem Befragungsinstitut Link nach wissenschaftlichen Kriterien und gültigen Standards durch.

Die Fragebogen werden jeweils von Fors und dem ZDA vor jeder Abstimmung erstellt. Das Link-Institut führt unmittelbar nach jeder eidgenössischen Volksabstimmung Telefoninterviews mit 1‘500 zufällig ausgewählten Schweizer Stimmberechtigten durch. Dabei wird ermittelt, welche Argumente für die Befragten entscheidend waren. Zudem werden generelle politische Ansichten, die Links-Rechts-Positionierung der Befragten, Teilnahmehäufigkeiten, genutzte Informationsquellen etc. sowie die wichtigsten soziodemografischen Merkmale der Befragten erfasst.

Die Analysen nach Abstimmungen sind ein seit langem eingeführtes Instrument für Behörden und Parteien. Sie geben Aufschluss über die Motive der Stimmenden. Diese Analysen ersetzen auch sogenannte ‚Exit-Polls‘, wie sie in anderen Ländern bei Wahlen und Abstimmungen üblich sind. ‚Exit-Polls‘, also die Befragung unmittelbar nach der Stimmabgabe vor dem Urnenbüro, sind in der Schweiz wegen des sehr hohen Anteils der Schriftlich-Stimmenden ohne Nutzen. Sie werden deshalb auch von keinem seriösen Institut in der Schweiz durchgeführt.

Die Voto-Studien (früher Vox-Analysen) sind von Bedeutung; sie geben Erklärungen für Abstimmungsresultate. Sie enthalten einen fundierten Neuigkeitswert, der über die Erklärungen am Abstimmungstag selber hinausgeht.

Voto-Studie zu USR III

Die Voto-Studie zur Abstimmung über die USR III umfasst insgesamt 54 Seiten.[1] Es ist daher klar, dass die Tagesschau nur einen Teilbereich der Studie behandeln konnte. Die Tagesschau hat sich auf das wesentliche – und gleichzeitig – überraschende Ergebnis der Studie konzentriert: <74 Prozent der Befragten gaben an, es sei ihnen schwer gefallen, die Vorlage zu verstehen.> Die Studienautoren führen weiter aus, dass ‚die Überforderung mit der Vorlage‘ einer der wichtigsten Gründe gewesen seien, weshalb die USR III an der Urne scheiterte.

Wer als Stimmbürger die Vorlage als ‚sehr komplex‘ beurteilt und sich deswegen als ‚überfordert‘ eingeschätzt hat, ist deswegen nicht der Urne ferngeblieben oder hat leer eingelegt, wie dies der Beanstander annimmt. Diese Stimmbürger haben sich, wie der Beitrag in der Grafik aufzeigt, auf andere Faktoren gestützt – etwa auf die Kampagne des Nein-Lagers (Steuergeschenk an die Konzerne) oder auf Empfehlungen von Parteien oder glaubwürdigen Einzelpersonen (Alt-Bundesrätin Evelyne Widmer-Schlumpf).

Die Tagesschau ist nicht bei der Analyse der Voto-Studie stehen geblieben. Sie hat Vizekanzler André Simonazzi mit den Ergebnissen konfrontiert; dieser sieht durchaus Möglichkeiten, wie die Information der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger bei komplexen Vorlagen verbessert werden kann.

Die Tagesschau hat sachgerecht über den wesentlichen Inhalt der Nach-Abstimmungsanalyse berichtet. Die Tagesschau hat also keine Falschaussage verbreitet, wie Herr X dem ‚Schweizer Staatsfernsehen‘ vorwirft. Sie hat den Souverän in keiner Weise als ‚unfähig‘ bezeichnet.

Exkurs Staatsfernsehen

Die Sender von Schweizer Radio und Fernsehen SRF sind – wie die anderen Sender der SRG in den anderen Sprachregionen – nicht vom Staat beherrscht. Im Gegenteil, bereits Artikel 93 der Bundesverfassung gewährleistet die ‚Unabhängigkeit von Radio und Fernsehen sowie die Autonomie in der Programmgestaltung‘. Diese Unabhängigkeit wird im Bundesgesetz für Radio und Fernsehen (RTVG) in Artikel 6 noch weiter vertieft: Es gibt kein Weisungsrecht von Behörden an die Programmveranstalter, ausser das Bundesrecht bestimme eine Ausnahme.

Berichterstattung in den Medien

Andere Medien haben die Voto-Studie ähnlich behandelt wie die Tagesschau. So titelte etwa die Neue Zürcher Zeitung NZZ ‚Unsichere Stimmbürger votierten mit Nein‘; sie erläutert im Lead-Text <Laut Voto-Studie scheiterte die Unternehmenssteuerreform III an der hohen Komplexität der Vorlage.> Um fortzufahren: <Im ganzen Jahrtausend haben die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger noch bei keiner Abstimmungsvorlage so geringen Durchblick gehabt wie bei jener zur Unternehmenssteuerreform (USR) III. Drei von vier Personen ist es schwer gefallen, zu verstehen, worum es bei dieser Reform ging.>

Das St.Galler Tagblatt zitierte zu Beginn des Artikels einen Befragten: <Ich habe das Bundesbüchlein dreimal gelesen und bin immer noch nicht drausgekommen, worum es geht.> Weitere Medien haben im gleichen Sinne berichtet, so etwa der Tages-Anzeiger oder der Blick.[2]

Stimmbeteiligung

Herr X macht sich Sorgen um die Stimmbeteiligung in der Schweiz. Diese Sorge kann ich gut verstehen, setzt eine lebendige Demokratie doch das Mitmachen der Bürgerinnen und Bürger voraus. Die Stimmbeteiligung hängt von verschiedensten Faktoren ab, allen voran vom Inhalt der Vorlage, der Betroffenheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, der Emotionalität der Argumente, der Heftigkeit des Abstimmungskampfes, etc.

Stimmbeteiligungen von rund 50 Prozent sind in der Schweiz seit Jahrzehnten ‚normal‘. Sie sind auch kein Anlass zur Beunruhigung. Es ist auch die Freiheit jeder Bürgerin und jedes Bürgers, an einer Wahl oder einer Abstimmung nicht teilzunehmen. Mir graut – es sei mir diese persönliche Bemerkung erlaubt – vor der Vorstellung von Stimmbeteiligungen von 95 Prozent und mehr, wie sie in ‚diktatorischen‘ Staaten üblich waren und teilweise immer noch sind.

Fazit

Die Tagesschau hat sachgerecht über den Inhalt der Voto-Studie zur Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform III berichtet. Ich bitte Sie daher, die Beanstandung in diesem Sinne zu beantworten.“

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Vor 1977 wusste man nie wirklich, was die Gründe dafür waren, dass eine Abstimmungsvorlage angenommen oder verworfen worden war. Die Behörden hatten bei einem Scherbenhaufen oft auch keine Ahnung, wie sie die Politik weiter gestalten sollten, in welche Richtung es gehen sollte. Das änderte sich mit den Nachbefragungen nach den Volksabstimmungen. Es war Professor Erich Gruner an der Universität Bern, der Altmeister der Schweizer Politikwissenschaft, der die Idee zur Vox-Analyse hatte, die er zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Sozialforschung (GfS) realisierte. Am Anfang war Hans-Peter Hertig der Verantwortliche, später Claude Longchamp, und schliesslich kooperierte GfS Bern mit den politikwissenschaftlichen Instituten der Universitäten Bern, Genf und Zürich, die im Turnus die Analyse schrieben. Die Finanzierung übernahm die Bundeskanzlei. Neu sind jetzt mit Voto das Zentrum für Demokratie in Aarau (ZDA)[3] und das Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften (FORS)[4] in Lausanne zusammen mit dem Befragungsinstitut LINK am Drücker. Diese Wissenschaftler und Meinungsforscher führen nach jeder Volksabstimmung die Nachbefragung durch, die das Wissen mehrt über die Art der Meinungsbildung, über die Entscheidmotive und über das weitere Vorgehen.

Was Sie beanstanden, hat eigentlich mit dem „Tagesschau“-Beitrag nichts zu tun: Sie prügeln das Fernsehen und meinen die Voto-Analytiker. Denn diese haben herausgefunden, dass drei Viertel der Befragten Mühe hatten, die Vorlage zu verstehen, und dass ein Drittel der Verwerfenden aus diesem Grund nein stimmte. Ebenso nannte ein Drittel der Nichtstimmenden die Schwerverständlichkeit als Grund für die Abstinenz. Die „Tagesschau“ hat diese Erkenntnisse nicht erfunden, sondern nur weitervermittelt.

Und dennoch stossen wir hier auf Schwierigkeiten: Es waren drei Viertel der Befragten, ein Drittel der Nein-Stimmenden und ein Drittel der Nichtstimmenden. Es sind verschiedene Bezugsgrößen im Spiel. Befragt wurden 1512 repräsentativ ausgewählte Stimmberechtigte. Unter denen waren auch solche, die nicht an der Abstimmung teilgenommen hatten, denn die Stimmbeteiligung hatte ja nur 46 Prozent betragen. Wenn also drei Viertel der Befragten Mühe hatten, die Vorlage zu verstehen, so waren unter ihnen solche, die sich an bestimmte Opinion Leader hielten und trotzdem ja stimmten, solche, die genau aus diesem Grund nein stimmten, und solche, die entweder leer einlegten oder auf die Teilnahme verzichteten. Es ist übrigens gar nicht so dumm, nein zu stimmen, wenn man eine Vorlage nicht versteht, denn dann bleibt alles beim Alten, und das Bisherige kennt man. Die Schweizer Stimmberechtigten wollen jeweils wissen, wohin die Reise geht, nur dann sagen sie überzeugt ja zu etwas Neuem.

Wenn wir das auseinander beineln, dann merken wir, dass die „Tagesschau“ es nicht geschafft hat, die Botschaft verständlich rüberzubringen. Die einzelnen Informationspartikel waren zwar alle richtig, aber der Zusammenhang blieb unklar. Genau deshalb haben Sie gestutzt, als Sie hörten, drei Viertel hätten die Vorlage nicht verstanden, und das sei der Grund für das wuchtige Nein.

Was hier gescheitert ist, ist der Präzisionsjournalismus, jenes Konzept, das dafür sorgt, dass sozialwissenschaftliche Daten zugleich korrekt und verständlich vermittelt werden. Zum Präzisionsjournalismus gehört, dass jedes Mal gesagt wird: Wie viele Personen wurden befragt? Was für Personen (Menschen ab 6 Jahren, Erwachsene, Stimmberechtigte)? Wer hat die Befragung durchgeführt? Welche Methode wurde angewandt und was für Unschärfen können entstehen? Bei den Meinungsumfragen vor Wahlen und Abstimmungen (Wahlbarometer, Abstimmungsbarometer) vermittelt die „Tagesschau“ diese Angaben jeweils. Diesmal fehlten sie.

Zusammenfassend: Die „Tagesschau“ hat die einzelnen Fakten korrekt vermittelt, aber durch mangelnde Präzision und durch fehlende Differenzierung die Zusammenhänge nicht klar gemacht und ein Stück weit Verwirrung gestiftet. Außerdem fehlten die Minimalangaben zur Umfrage. Das war nicht ausreichend sachgerecht. Deshalb stimme ich Ihrer Beanstandung teilweise zu.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

[1] http://www.voto.swiss/wp-content/uploads/2017/04/VOTO_Bericht_12.02.2017_DE.pdf

[2] Vgl. Beilage 5045 Presse

[3] https://www.zdaarau.ch/

[4] http://forscenter.ch/de/

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