Sendung «Tagesschau» vom 16. April 2017, Beitrag «Bau neuer Atomkraftwerke unwahrscheinlich» beanstandet II
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Mit Ihrer E-Mail vom 17. April 2017 beanstandeten Sie den Beitrag über den Atomausstieg in der „Tagesschau“ des Fernsehens SRF vom 16. April 2017.[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann folglich darauf eintreten.
A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:
„In der erwähnten Sendung wurden im Beitrag ‚Bau neuer Atomkraftwerke unwahrscheinlich‘ (Fritz Reimann) in mehrfacher Hinsicht journalistische Grundregeln, insbesondere jedoch das Sachgerechtigkeitsgebot sowie das Transparenzgebot missachtet.
Begründung
Bereits bei der Anmoderation des Beitrages ‚Bau neuer Atomkraftwerke unwahrscheinlich‘ wurde ein Bezug zur Abstimmungsvorlage vom 21. Mai 2017 (neues Energiegesetz) hergestellt. Im Beitrag selber wurden stark gekürzte Statements von Kurt Rohrbach in einer manipulativen Art in Zusammenhang mit der möglichen Unwirtschaftlichkeit neuer Atomkraftwerke und einem gesunkenen Pro-Kopf-Stromverbrauch gebracht.
Zusätzlich wurde eine diesbezügliche Grafik (siehe Abbildung) mit einem gesunkenen Pro-Kopf-Stromverbrauch in den Beitrag eingeflochten und mit einem Statement von Moritz Leuenberger verwoben. Der ehemalige Bundesrat äussert sich darin 2007 (siehe 2. Abbildung) zur Notwendigkeit des Atomstromes, respektive der damit zusammenhängenden Versorgungssicherheit. Auch hier wurde manipulativ versucht, die damalige Aussage von Moritz Leuenberger aufgrund des minimal gesunkenen Pro-Kopf-Stromverbrauches, als überholt darzustellen.
Fakt ist jedoch:
1. Der Stromverbrauch in der Schweiz ist wegen der anhaltend hohen Zuwanderung und einer (erfolgreichen) Industrie weiterhin steigend.
2. Die Einschätzung, dass neue AKW's potentiell unwirtschaftlich seien, steht in direktem Zusammenhang mit einer Überproduktion vom subventioniertem Auslands-Import-Strom und nicht, wie im Beitrag suggeriert, mit einem sinkenden Pro-Kopf-Stromverbrauch.
3. Die Aussage von 2007 von Moritz Leuenberger betreffend der Versorgungssicherheit ist nach wie vor korrekt, weil der Stromverbrauch in der Schweiz weiterhin steigend ist und dieses Frage nach wie vor nicht gelöst ist.
In diesem Beitrag wurde auf krasse Weise versucht, die TV-Zuschauer zu manipulieren und hinsichtlich der Abstimmung vom 21.5.2017 (Anmoderation) vorgegaukelt, der Energieverbrauch sänke ja sowieso. Wie erwähnt ist genau das Gegenteil der Fall. Der Beitrag ist zudem einseitig, tendenziös und widerspiegelt wohl die Gesinnung des Autors.
Ich bin deshalb der Meinung, dass dieser Beitrag gegen die aufgeführten Richtlinien verstösst und nichts im öffentlich rechtlichen Fernsehen zu suchen hat und bitte Sie ebenfalls um Ihre sorgfältige, geschätzte Stellungnahme zum Fall.“
B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die Redaktion der „Tagesschau“ antwortete Herr Franz Lustenberger:
„Mit Mail vom 17. April beanstandet Herr X den Beitrag in der Tagesschau-Hauptausgabe zum Thema Atomkraftwerke.
Energiestrategie
Der Beitrag hat – wie der Beanstander schreibt – einen Bezug zur Abstimmung vom 21. Mai. In der Energiestrategie 2050 (Totalrevision des Energiegesetzes sowie Änderung und Aufhebung anderer Erlasse) wird unter anderem der schrittweise Ausstieg aus der Atomenergie festgelegt. Artikel 12a des Kernenergiegesetzes lautet neu: <Rahmenbewilligungen für die Erstellung von Kernkraftwerken dürfen nicht erteilt werden.>
Also stellt sich die Frage, ob ein solches ‚Verbot‘ aus wirtschaftlichen Gründen sinnvoll ist oder nicht. Der Beitrag zeigt, dass kein Unternehmen oder kein Investor bereit sind, in der Schweiz ein neues Kernkraftwerk zu planen und zu realisieren. Bereits in der Anmoderation zum Beitrag wird klargemacht, dass vor allem finanzielle Risiken für diesen Verzicht und damit den faktischen Atomausstieg die Hauptrolle spielen.
Kurt Rohrbach als Präsident des Verbandes Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) und als ehemaliger Chef der Bernischen Kraftwerke BKW ist eine glaubwürdige Person, die sich zur Rentabilität von Kernkraftwerken äussern kann. Die Tagesschau verwahrt sich gegen den Vorwurf, es seien <stark gekürzte Statements von Kurt Rohrbach in einer manipulativen Art> mit der Unwirtschaftlichkeit von Kernkraftwerken und dem gesunkenen Pro-Kopf-Stromverbrauch in Zusammenhang gebracht worden.
Stromverbrauch
Die Grafik zeigt, wie sich der Stromverbrauch pro Kopf in den Jahren seit 1960 entwickelt hat: Seit dem Jahr 1990 haben sich die Zuwachsraten im Vergleich zu den Vorperioden deutlich verlangsamt, seit 2010 ist gar ein Rückgang zu verzeichnen. Die Grafik steht in einem direkten Bezug zu den Aussagen von Kurt Rohrbach: man sei in der Elektrizitätswirtschaft zu optimistisch gewesen und man sei davon ausgegangen, dass die Entwicklung in Europa so weiter gehen werde. <Das ist so nicht eingetreten.>
Die Wirtschaftsentwicklung und der Stromverbrauch verlaufen nicht parallel: Während der Stromverbrauch pro Kopf auf hohem Niveau stabil bleibt oder in den letzten Jahren gar rückläufig ist, zeigt das Wirtschaftswachstum (BIP pro Kopf) mit Ausnahme der Krisenjahre 2002/2003 nach den Anschlägen in New York und dem Irakkrieg, des Jahres 2009 (Finanzkrise) und des Jahres 2015 (Aufhebung des Euro-Mindestkurses) gesamthaft nach oben, wie folgende Zahlenreihe belegt:
2000 (plus 3,4 %); 2001 (plus 1,0 %); 2002 (minus 0,6 %); 2003 (minus 0,7 %); 2004 (plus 2,1 %); 2005 (plus 2,4 %); 2006 (plus 3,4 %); 2007 (plus 3,3 %); 2008 (plus 1,1 %); 2009 (minus 3,3 %); 2010 (plus 1,9 %); 2011 (plus 1,1 %) ; 2012 (unverändert) ; 2013 (plus 0,6 %) ; 2014 (plus 0,8 %) ; 2015 (minus 0,3 %) [2].
Zum Gesamt-Stromverbrauch in der Schweiz hält der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE auf seiner Homepage fest:
Zwar haben in den letzten Jahren Wirtschaftswachstum, Bevölkerungswachstum und mehr Heizgradtage den Stromverbrauch gesteigert, diese Steigerung konnte aber durch Effizienzmassnahmen kompensiert werden. So blieb der Verbrauch in den letzten Jahren stabil, während der Pro-Kopf-Verbrauch gar einen Rückgang verzeichnen kann.[3]
Der Stromverbrauch in der Zukunft hängt von verschiedenen Faktoren ab, nicht nur von der Zuwanderung, respektive der Bevölkerungsentwicklung (die Bevölkerung in der Schweiz kann auch zunehmen ohne Zuwanderung aus dem Ausland) oder der Entwicklung der Industrie. Wie oben gezeigt gehen Wirtschaftsentwicklung und Stromverbrauch nicht im Gleichschritt. Auch die Wirtschaftsstruktur eines Landes, respektive deren Veränderung in der Zeitachse, spielen eine Rolle; Dienstleistungsunternehmen brauchen etwa deutlich weniger Strom pro Arbeitsplatz als etwa die Stahlindustrie.
Der VSE weist zu Recht auf die Effizienzmassnahmen hin; heutige elektrische Geräte und Lampen brauchen ein Vielfaches weniger Strom als alte Geräte. Es gibt keinen Anlass anzunehmen, dass der technologische Fortschritt im Bereich der Strom- und der Energieeffizienz allgemein mit dem Jahre 2017 am Ende angelangt ist.
Dazu kommt das Verhalten der Konsumentinnen und Konsumenten, der Industrie und des Gewerbes. Trotz stabiler oder teilweise sogar sinkender Preise ist die Nachfrage pro Kopf nicht gestiegen, was man aufgrund der reinen Marktlehre annehmen könnte. Der Stromverbrauch jetzt und in der Zukunft hängt also von verschiedensten Faktoren ab.
Stromimporte
Herr X schreibt, die Tagesschau habe suggeriert, die Unwirtschaftlichkeit der Atomkraftwerke hänge mit dem sinkenden Pro-Kopf-Konsum zusammen. Dies ist nicht korrekt. Im Kommentar-Text heisst es nämlich wörtlich: <Hinzu kommt, dass in Europa immer mehr Strom produziert wird. Erneuerbare Energie aus Deutschland oder Elektrizität aus Kohlekraftwerken. Der Stromüberfluss führt zu immer tieferen Preisen. Für Kurt Rohrbach ist es unter diesen Bedingungen unvorstellbar, Milliarden in neue Atomkraftwerke zu investieren.>
Mit anderen Worten – was der Beanstander von der Tagesschau verlangt, nämlich auf den importieren Auslands-Strom hinzuweisen, hat die Tagesschau exakt so gesagt. Der billige Import-Strom macht Investitionen in neue Atomkraftwerke in der Schweiz finanziell hochriskant.
Versorgungssicherheit
Zum Einwand, dass die Aussage von Bundesrat Moritz Leuenberger von 2007 betreffend Versorgungssicherheit nach wie vor korrekt sei, hält die Tagesschau fest: Im Beitrag ging es nicht um das Thema Versorgungssicherheit. Der O-TON von Bundesrat Moritz Leuenberger sollte einzig zeigen, wie anders die Einstellung gegenüber der Atomenergie vor wenigen Jahren auch seitens des Bundesrates noch war. Die Frage der Versorgungssicherheit stellt sich so oder so, da in zehn oder zwanzig Jahren alle Schweizer Atomkraftwerke nicht mehr in Betrieb sein werden und angesichts der absehbaren Preisentwicklung kein Investor in der Schweiz bereit ist, die finanziellen und politischen Risiken von Planung und Bau eines neuen AKW zu übernehmen.
Die Restlaufzeit der Schweizer AKWs hängt wesentlich von der generellen Entwicklung der Strompreise und den Kosten der Stromproduktion in den AKWs ab. Mit zunehmendem Alter der Werke werden sich irgendwann einmal die Kosten in die Nachrüstung (Sicherheit) nicht mehr rechnen.
Fazit
Der Beitrag behandelt die wirtschaftlichen Aspekte rund um die Zukunft der Atomkraft in der Schweiz. Planung und Bau eines neuen Atomkraftwerkes sind selbst für einen ehemaligen Promoter der Kernenergie angesichts der finanziellen Risiken für die nächsten Jahrzehnte kein Thema mehr. Der Beitrag lässt zudem die Frage offen, ob es angesichts der Situation und der Perspektiven auf dem europäischen Strommarkt überhaupt eine Gesetzesänderung braucht oder nicht.
Der Beitrag behandelt einen Aspekt der laufenden Diskussion rund um die Energiestrategie. Er ist weder einseitig noch tendenziös, sondern er analysiert zusammen mit einem Experten, notabene dem ‚höchsten Stromunternehmer‘ des Landes, die Chancen für den Bau eines neuen Atomkraftwerkes in der Schweiz in nächster Zeit.
Ich bitte Sie, die Beanstandung in diesem Sinne zu beantworten.“
C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung des Beitrags. Wenn man von sechs Wochen als „heiße Phase“ vor Wahlen und Abstimmungen ausgeht[4], dann lag der 16. April 2017 im Hinblick auf die Energieabstimmung vom 21. Mai 2017 gerade noch außerhalb dieser Phase. In der „heißen Phase“ gelten erhöhte journalistische Sorgfaltspflichten. Dann sind die Anforderungen an die Vielfalt der Positionen, an die Genauigkeit der Aussagen und an die Neutralität des Senders höher. Vorher aber ist nur entscheidend, dass sich das Publikum aufgrund der präsentierten Fakten frei eine eigene Meinung bilden kann. Es soll nicht manipuliert werden. Sie aber behaupten genau das, und Sie führen als Beleg dafür drei Punkte an:
- Der Stromverbrauch sei im Gegensatz zu den Aussagen im Beitrag weiterhin steigend.
- Die Gründe für die Unwirtschaftlichkeit neuer Atomkraftwerke sei die Überproduktion von subventioniertem Auslands-Stromimport.
- Die Aussage von Bundesrat Moritz Leuenberger aus dem Jahr 2007 sei nach wie vor gültig.
Weil der Beitrag in diesen drei Punkten zu anderen Schlüssen kommt, sei Ihrer Meinung nach das Publikum manipuliert worden. Sie führen allerdings für Ihre Thesen keine Statistiken an, im Unterschied zu Herrn Franz Lustenberger, der überzeugend nachweist, dass Zuwanderung, Bevölkerungsentwicklung, Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch nicht zwingend parallel laufen und dass sich der Energieverbrauch in der Schweiz in den letzten Jahren aus verschiedenen Gründen stabilisiert hat. Ich habe seinen Ausführungen nichts beizufügen und stimme ihnen von A-Z zu.
Sie behaupten ferner, die Statements des Energieunternehmers Kurt Rohrbach seien stark gekürzt worden und seien in manipulativer Art in den Zusammenhang mit der möglichen Unwirtschaftlichkeit neuer Atomkraftwerke gebracht worden. Dieser Manipulationsvorwurf leuchtet überhaupt nicht ein. Denn die Unwirtschaftlichkeit neuer Atomkraftwerke war ja gerade das Thema des Beitrags, und genau deshalb und darüber hat Fritz Reimann mit Kurt Rohrbach gesprochen. Und warum können Sie behaupten, die Statements von Kurt Rohrbach seien stark gekürzt und manipulativ in einen anderen Zusammenhang gebracht worden? Waren Sie bei dem Gespräch dabei? Oder hat Herr Rohrbach es Ihnen gesagt? Wenn ja, warum reicht er dann nicht selber einen Beanstandung ein? Denn nur er könnte glaubhaft begründen, dass Statements willkürlich und manipulativ gekürzt worden seien.
Im Prinzip gilt folgende Praxis:
- Alle Gespräche, die fürs Fernsehen oder Radio aufgenommen werden, müssen gekürzt werden, sofern es sich nicht um eine Live-Sendung handelt. Die Gespräche dauern immer länger, als die verfügbare Zeit im Beitrag es zulässt.
- Die Kürzungen sind oft zum Vorteil des Gesprächspartners, weil auf diese Weise missratene Sätze, unklare und halbfertige Formulierungen, „äh“ und Versprecher eliminiert werden können.
- Der Gesprächspartner soll mit seinen besten Argumenten zum Zug kommen.
- Die Statements sollen in den Zusammenhang gestellt werden, der mit dem Gesprächspartner abgesprochen worden ist.
Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass Fritz Reimann genauso vorgegangen ist und dass die Statements nicht missbräuchlich verwendet worden sind. Herr Rohrbach argumentiert denn auch logisch und genau zum Thema. Ich kann also hier ebenfalls keinen Regelverstoß erkennen. Und insgesamt muss ich nochmals betonen, dass die Aussagen im Beitrag beweisbar und daher begründet sind. Deshalb kann ich Ihre Beanstandung nicht unterstützen.
D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.
[1] http://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/tagesschau-vom-16-04-2017-1930?id=20255cbe-c461-4a76-be0e-9619aef1dee7
[2] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/querschnittsthemen/wohlfahrtsmessung/alle-indikatoren/wirtschaft/reales-bip-pro-kopf.assetdetail.214640.html
[3] https://www.strom.ch/de/energie/energiefakten/strom-und-verbrauch.html
[4] Die „Publizistischen Leitlinien“ von SRF sprechen von drei Wochen, die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) nannte einmal acht Wochen. Dagegen regte sich innerhalb von SRF Widerstand mit dem Argument, dass bei jährlich vier Abstimmungen fast zwei Drittel des Jahres aus heißen Phasen bestehen. Die für alle akzeptable Lösung dürfte sich daher bei sechs Wochen einpendeln.
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