«Die Diskussion über die Medien ist gut»

Täglich, stündlich, minütlich sind wir durch die Medien mit Informationen konfrontiert. Doch wie viel davon ist wahr? Wie objektiv sind Fakten und was sind sie überhaupt? Ein Gespräch mit ZHAW-Medienwissenschaftler Guido Keel.

Was sind Fakten?
Man kann sagen: Es gibt objektive Fakten, die unabhängig vom Beobachter existieren. Oder man kann sagen: Fakten sind das, was ich persönlich wahrnehme. Jemand anderes nähme es ganz anders wahr, darum gibt es nur persönliche Fakten. Und es gibt eine Mittelposition, die auch ich vertrete: Fakten sind das, worauf man sich sozial einigen kann.

Philosophisch betrachtet, kann man nicht abschlies­send beweisen, dass etwas existiert. In einer Gemeinschaft kann man sich jedoch einigen: Wir nehmen es so wahr. Dabei gibt es Fakten, auf die man sich relativ einfach einigen kann: Doris Leuthard ist aktuell Bundes­präsidentin. Oder: Novartis ist ein Schweizer Pharma-Unternehmen. Aber da beginnen die Schwierig­keiten bereits: Ist Novartis wirklich schweizerisch, oder befindet sich einfach noch der Hauptsitz in der Schweiz? Das ist eine Wahrnehmung oder eine Interpretation, bei der sich schon nicht mehr alle einig sind. Je stärker Aussagen mit Interpretationen

«Novartis ist ein Schweizer Pharma-Unternehmen. Aber da beginnen die Schwierig­keiten bereits: Ist Novartis wirklich schweizerisch, oder befindet sich einfach noch der Hauptsitz in der Schweiz? Das ist eine Wahrnehmung oder eine Interpretation, bei der sich schon nicht mehr alle einig sind.»

oder Wertungen verbunden sind, desto kleiner wird die Einigkeit: «Obama war der bessere Präsident als Trump» – was den einen sonnenklar erscheint, empfinden andere überhaupt nicht so. Das gilt insbesondere dann, wenn die Situation komplex ist und die Informationen widersprüchlich sind: Bezahlen die KMU die Zeche für die Energiewende? Trägt Russland zu den Menschenrechtsverletzungen in Syrien bei? Ist die Fifa korrupt? Auf solche Fragen gibt es keine einfachen «faktischen» Antworten.

Wir leben in einem «postfaktischen» Zeitalter, heisst es. Was bedeutet das?
Es gibt nicht nur eine Interpretation von Realität, sondern sehr viele unterschiedliche Fakten oder Verständnisse von Realität und Welt. In Bezug auf die Medien bedeutet «postfaktisch», dass es nicht mehr wenige spezialisierte Organisationen – eben Medien – gibt, die Realität vermitteln. Es gibt heute sehr viele alternative Anbieter und Personen, die potenziell ein Massenpublikum erreichen.

Also ein digitales Phänomen?
Dass es unterschiedliche Sichtweisen der Realität gibt, ist nicht neu. Früher gab es etwa Parteizeitungen, die die Realität unterschiedlich interpretierten. Heute jedoch können Inhalte in gros­sen digitalen Netzwerken schneeballartig verbreitet werden. Früher existierte zudem eher ein gemeinsamer Kern des Verständnisses: Die Fakten waren dieselben, die Interpretationen unterschiedlich. Heute gehen etwa Donald Trump und seine Sprecher einen Schritt weiter und sprechen ganz bewusst von «alternativen Fakten». In der Schweiz ist es jedoch noch nicht so weit.

Dürfen Politiker anders mit Fakten umgehen als Medien?
Ich meine, Politiker haben eine andere Funktion als Journalisten. Deshalb ist zu akzeptieren, dass Politiker etwas unvollständig darstellen und so einen Zusammenhang verschleiern. Journalisten hingegen haben die Aufgabe, die Öffentlichkeit vollständig zu informieren. Deshalb müssen sie den ganzen Zusammenhang berücksichtigen. Die Informationen sollen dabei nicht nur aktuell und relevant sein, sondern auch faktisch zutreffen.

«Journalisten haben die Aufgabe, die Öffentlichkeit vollständig zu informieren. Deshalb müssen sie den ganzen Zusammenhang berücksichtigen. Die Informationen sollen dabei nicht nur aktuell und relevant sein, sondern auch faktisch zutreffen.»

Weshalb wirft man heute auch den Medien die Verbreitung von Fake News vor und traut ihnen nicht mehr?
Journalistische Medien sind nach wie vor die zuverlässigste Quelle, um etwas über Gesellschaft und Realität zu erfahren. Doch aufgrund des wirtschaftlichen Drucks sind Redaktionen geschrumpft und sie stehen einer viel grösseren Konkurrenz von Informationsanbietern gegenüber. Das kann dazu verleiten, mit gewagten Geschichten Aufmerksamkeit erlangen zu wollen. Zudem müssen diese verkleinerten Redaktionen schnell produzieren, weil der Druck durch die Online-Konkurrenz gross ist und das Publikum sofort über alles Bescheid wissen will. Unter diesem Zeitdruck ist es schwieriger geworden, Themen vollständig zu recherchieren und zuverlässig aufzubereiten. Ein weiteres Problem sind Fehler, die passieren, und deren Folgen.

Fehler – falsche Fakten – gab es ja schon immer: Der Begriff «Zeitungsente» stammt aus dem 19. Jahrhundert.
Damals haben weniger Leute die Fehler realisiert, und die übrigen haben davon nichts erfahren, weil es keine alternativen Quellen gab. Heute ist es anders: Berichten die Medien über ein Thema, über das man selber sehr gut Bescheid weiss, merkt man oft, dass nicht alles ganz genau stimmt, denn Journalistinnen und Journalisten können nicht bei allen Themen Experten sein. Deshalb werden sie der Sache nie zu 100 Prozent gerecht, sondern vielleicht zu 99 Prozent. Fällt dieses eine Prozent in mein Fachgebiet, merke ich es und schreibe etwa darüber auf Facebook. So erfahren es andere und verstärken den Eindruck vielleicht noch durch die Aufzählung von Fehlern, die sie bemerkt haben. Die Möglichkeit, selbst im Internet zu recherchieren und sich im Netz zu äussern, hat dazu beigetragen, dass die Glaubwürdigkeit der Medien heute stärker angezweifelt wird.

Die Anzahl der Fact-Checking-Organisationen ist stark gewachsen: Laut einer Studie von Reuters sind über 50 der weltweit 113 als Faktenprüfer tätigen ­Organisationen in den letzten zwei Jahren entstanden. Welche Rolle spielen diese?
Sie können ein Mosaikstein sein, der zum Vertrauen in die Medien beiträgt. Doch mehr, glaube ich, sind sie nicht. Beim Fact-Checking im engeren Sinn geht es darum, nachzuprüfen, ob etwa die Zahlen stimmen, oder die Namen richtig geschrieben wurden. Es ist gut, wenn diese Überprüfung stattfindet, weil das Publikum sieht, dass die Medien genau arbeiten. Für mich geht Faktenprüfung aber weiter: Es geht darum, dass man auch ­die Argumentationen, die man in Medien vermittelt, hinterfragt. Das ist ja eigentlich das Kernbusiness des Journalismus.

«Für mich geht Faktenprüfung weiter: Es geht darum, dass man auch ­die Argumentationen, die man in Medien vermittelt, hinterfragt. Das ist ja eigentlich das Kernbusiness des Journalismus.»

Es gibt heute Leute, die von den Medien fordern: «Bringt Fakten, nicht eure Einordnung, die sowieso falsch ist.»
Die Leute lesen etwas in der Zeitung, dann finden sie im Netz einen Blog, in dem etwas ganz anderes steht. Sie möchten wissen, was nun wirklich Sache ist, und fordern Fakten. Doch Fakten ergeben erst Sinn, wenn sie in einem Kontext stehen. Es ist wichtig, dass Journalisten die Realität so präzis wie möglich darstellen, doch die Einbettung in den Kontext braucht es auch. Wichtig ist auch, dass das Publikum versteht, dass jede noch so neutrale Darstellung bereits eine Bearbeitung der Realität bedeutet und es eine rein faktische Darstellung darum nicht gibt. Journalismus hat vier Funktionen: Er soll informieren, orientieren, kritisieren und ein Forum für verschiedene Stimmen bieten. «Informieren» bedeutet neutrale Berichterstattung, «orientieren» bedeutet Interpretation, Einordnung und Klärung – diese beiden Funktionen widersprechen sich also.

Was bedeutet das für die Medienschaffenden beispielsweise bei der Vermittlung von Entscheidungsgrundlagen für Abstimmungen?
Genau hier zeigt sich der Unterschied zwischen Information und Orientierung. Stellt der Journalist die verschiedenen Standpunkte nebeneinander und der Leser muss selber entscheiden? Oder soll er erklären, wie eine Vorlage zu verstehen ist und wie man abstimmen soll? Im Journalismus muss man versuchen, beide Funktionen zu vereinen, obwohl sie im Widerspruch zueinander stehen. Ein Weg dazu ist die Trennung von Nachricht und Meinung.

Unlängst hat eine Studie der Stanford University ­gezeigt, dass eine grosse Mehrheit der jungen ­Amerikaner nicht zwischen Journalismus und ­Werbung oder PR von Interessengruppen unter­scheiden kann. Die Studienautoren machen sich ­Sorgen, weil es so leicht sei, Desinformation über ­gesellschaftlich wichtige Fragen zu verbreiten.
Wenn das Publikum nicht mehr unterscheiden kann zwischen einer Berichterstattung, die zumindest den Anspruch hat, im Interesse der Öffentlichkeit zu berichten, und einer Berichterstattung, die klar das strategische Interesse eines Unternehmens oder einer Partei vertritt, dann haben wir ein Problem. Medien haben unter anderem die Funktion, für eine Synchronisierung der Gesellschaft zu sorgen. Wir müssen ja, um zusammenleben und gemeinsam politische Entscheidungen fällen zu können, ein gewisses Grundverständnis von Realität teilen. Gibt es nur noch Filterblasen, die ihre Weltbilder pflegen und sich nicht mehr an die Gemeinschaft anschliessen können, sehe ich ein Problem für die demokratischen Entscheide und das gesellschaftliche Zusammenleben. Wir sind zwar in der Schweiz noch weit von solchen Zuständen entfernt, sollten uns aber dennoch damit beschäftigen.

«Gibt es nur noch Filterblasen, die Weltbilder pflegen und sich nicht mehr an die Gemeinschaft anschliessen können, sehe ich ein Problem für die demokratischen Entscheide und das gesellschaftliche Zusammenleben.»

Wie sieht es mit der Medienkompetenz der Schweizer Jugendlichen aus?
Am Institut für Angewandte Medienwissenschaft führen wir aktuell erste Pilotstudien mit Schulklassen durch, um festzustellen, inwieweit die Schüler den Unterschied zwischen einem NZZ-Artikel, einem «20 Minuten»-Artikel und einem PR-Beitrag erkennen. Ich kann mich nicht auf Studien abstützen, aber ich denke, wir malen eher schwarz, wenn wir befürchten, junge Leute in der Schweiz könnten generell nicht zwischen einem Text eines Verschwörungstheoretikers und einem journalistischen Beitrag unterscheiden.

Wer muss in der Schweiz dazu beitragen, dass die Medienkompetenz zunimmt?
Es braucht einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs. Die Medien müssen stärker den Dialog mit dem Publikum suchen, noch besser erklären, wie die journalistischen Leistungen zustande kommen. Für die Medienkompetenz ist die intensive Diskussion über die Glaubwürdigkeit der Medien gut: Wenn das Publikum über Medien spricht, genauer hinschaut, wird ihm auch klarer, wie sie funktionieren. So kann es besser leisten, was es heute – im Gegensatz zu früher – leisten muss: Qualität und Anspruch der verschiedenen Informationsangebote, die ihm zum Beispiel auf Facebook nebeneinander zur Verfügung stehen, erkennen und unterscheiden.

Text: Bettina Büsser

Bild: Filipa Peixeiro

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