Unter der Tarnkappe in der Türkei

Sie wirkt am Bildschirm locker, ihre Berichterstattungen sind sachlich und informativ. Was die Zuschauerin, der Zuschauer nicht sieht: ihren (all-)täglichen Kampf für Fakten. SRF-Korrespondentin Ruth Bossart erzählt über ihre Arbeit in der Türkei.

Ich lüge. Ich muss lügen. Jeden Tag, an dem ich als Journalistin unterwegs bin. Unser Team erfindet vor jedem Dreh ein halbwegs plausibles, unverfängliches Narrativ, wovon unsere Geschichte heute gerade handelt. Meistens drehen wir einen Beitrag zum Thema Tourismus. Auch Architektur oder kulinarische Traditionen kommen meist genug unverfänglich daher, wenn uns die Polizei stoppt. Und das tut sie buchstäblich jedes Mal, wenn mein Kameramann sein Equipment auspackt. Innert weniger Minuten kommen die Ordnungshüter – in Uniform oder zivil. Wenn sie gut gelaunt sind, beschränken sie sich aufs Pressekartenprüfen. Denn ohne die gelbe Karte darf niemand journalistisch arbeiten. Dies ist mehreren Kollegen in den letzten Monaten zum Verhängnis geworden. Bis zur Verhängung des Ausnahmezustandes im letzten Juli nach dem gescheiterten Putsch hat sich kaum jemand darum gekümmert, ob Medienschaffende eine Akkreditierung besassen, oder ob sie als Touristen einreisten. Heute ist das anders. Es wird nicht mehr lange gefackelt. Man wird festgenommen und im besten Fall abgeschoben.

Ruth Bossart vor der Hagia Sophia mit ihrem Kameramann, Alper Cakici.

Mit dem Ausnahmezustand haben die Sicherheitskräfte fast unbeschränkte Kompetenzen erhalten. Sie können praktisch alles tun und lassen – wir sind immer am kürzeren Hebel. So wie neulich, als wir ein Interview mit einem entlassenen Medienmann machten, dessen Fernsehstation mit dem gesamten Inventar beschlagnahmt worden war. Wir wurden von der Polizei gestoppt, obwohl wir auf öffentlichem Grund filmten, und sie hat uns das Material löschen lassen. Warum wissen wir nicht genau. Wenigstens mussten wir unser Material «nur» löschen und nicht übergeben. Denn damit würden wir unsere Protagonisten in Gefahr bringen.

Seit dem letzten Juli gilt deshalb folgende goldene Regel: Nach jedem Interview, bevor man sich wieder auf die Stras­­se hinaus begibt, wird die SD-Karte auf eine externe HD kopiert, die an einem anderen Ort aufbewahrt wird, zum Beispiel im Auto, im Proviantsack oder in der Taschenapotheke. Die SD-Karte wandert in ein anderes Versteck und der Kameramann setzt eine neue ein. Vor allem im Südosten des Landes, in den kurdischen Gebieten, war diese Vorsichtsmassnahme allerdings schon vor dem gescheiterten Putsch nötig.

Manchmal lüge ich auch, wenn ich frei habe. Im Taxi zum Beispiel. Die Fahrer wollen gerne plaudern. Wie viele Kinder? Verheiratet? Woher kommen Sie? Und: Was arbeiten Sie? Bis vor wenigen Monaten habe ich meistens gesagt, dass ich Journalistin sei. Oftmals ist das Gespräch danach verstummt. Um uns diese Peinlichkeiten zu ersparen, habe ich beschlossen, dass ich Lehrerin bin. Lehrer sind in der Türkei noch immer hochgeschätzt – sogar wenn sie Ausländer sind.

«Manchmal lüge ich auch, wenn ich frei habe. Im Taxi zum Beispiel. Die Fahrer wollen gerne plaudern. Bis vor wenigen Monaten habe ich meistens gesagt, dass ich Journalistin sei. Oftmals ist das Gespräch danach verstummt.»

Als im Vorfeld des Referendums über ein Präsidialsystem am Ostersonntag die emotionalen Wogen gegenüber Europa, insbesondere Holland, Deutschland, aber auch der Schweiz, immer höher schlugen, da beschloss ich, auch bezüglich meiner Herkunft zu lügen. Mein holländischer Kollege wurde auf der Strasse tätlich angegriffen, das Team des ZDF hat die Schilder am Büroeingang schon lange abmontiert und niemand geht mehr mit einem Mikrofonschutz und Logo auf die Strasse. Im April wurden wir auf einer AKP-Veranstaltung, als wir einen Beitrag über Präsident Erdogan drehten, plötzlich von ­einem wütenden Mob umkreist. «Mossad-Agenten» war noch das Freundlichste, was wir zu hören bekamen. Plötzlich flogen Steine. In solchen Situationen gibt es nur eins: sofort das Weite suchen.

Auch beim Twittern mache ich Kompromisse. Gelogen wird dort allerdings nicht. Nie. Aber weniger gezwitschert – viel weniger. Kollegen wurde ihr Twitter- oder Instagram-Account zum Verhängnis, als sie zur «Überprüfung der Identität» festgenommen wurden. Je nach Mediengewandtheit der Polizisten werden dann auch manchmal die Social Media durchforstet. Ein französischer Fotograf, der für «Natio­nal Geographic» unterwegs war, soll auf Instagram «terroristisches Bildmaterial» gepostet haben. Er wurde festgenommen, einen Monat in Isolationshaft ­gehalten und schliesslich Mitte Juni ausgeschafft.

Keine Kompromisse mache ich, wenn es darum geht, Beiträge zu heiklen Themen zu realisieren oder in Schaltgesprächen Klartext zu sprechen. Wenn wir zu Brisantem wie Gülen-Anhängern oder PKK-Mitgliedern, zu Verhaftungen, Folter oder Enteignungen recherchieren, müssen wir allerdings extrem vorsichtig sein. Erste Priorität muss die Sicherheit unserer Protagonisten, aber auch meiner lokalen Fixerin haben. Informationen und Namen tauschen wir schon länger nicht mehr über E-Mail aus, auch beim Telefonieren weichen wir auf verschlüsselte Dienste aus. Unsere WhatsApp-History reinigen wir mit grosser Regelmässigkeit, denn wir müssen damit rechnen, dass wir bei einer Festnahme das Smartphone abgeben müssen.

Unabhängige Mainstreammedien gibt es in der Türkei kaum mehr. Mit den letzten verbliebenen Redaktoren – zum Beispiel von «Cumhuriyet» – stehen wir in persönlichem Kontakt. Internetseiten, die kritisch berichten, werden ohne Federlesen blockiert. Auch die Seite des öffentlich-rechtlichen holländischen Senders NOS kann hier nicht mehr aufgerufen werden. Entsprechend aufwändig und zeitintensiv sind Recherchen. Wir müssen täglich auf VPN ausweichen. Doch auch die türkischen Techniker machen Fortschritte und blockieren immer wieder auch diese «Tunnels» – oder verlangsamen schlicht das Internet, so dass es ewig dauert, eine Seite herunterzuladen. Alternative Quellen sind für mich auch Mitarbeitende von NGOs, die noch nicht geschlossen worden sind, und Bekannte aus der Zeit vor dem Putsch, denen man vertrauen kann. Denn Vertrauen, das ist das grösste Problem heute: Niemand weiss mehr, wem er was erzählen kann, wer was weiterleitet, wer ein Spitzel ist.
Übrigens: Ich würde lügen, wenn ich schriebe, dass ich nie ein mulmiges Gefühl hätte und dass Arbeiten unter solchen Konditionen ein Schleck ist.

Text: Ruth Bossart

Bild: zVg.

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