Katalonien- und Kosovo-Berichterstattung beanstandet
5414
Mit Ihrer E-Mail vom 25. März 2018 vermuteten Sie, dass Radio und Fernsehen SRF in ihrer Berichterstattung Kosovo und Katalonien mit verschiedenen Ellen messen. Ihre Eingabe entsprach zwar überhaupt nicht den üblichen formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Weder gaben Sie Ihre Postadresse an, noch bezogen Sie sich auf eine konkrete Sendung oder Online-Publikation von SRF, die Sie kritisierten, oder auf eine Abfolge von Sendungen innerhalb eines ganzen Quartals, noch erläuterten Sie einlässlich, was Sie eigentlich wollten. Dennoch entschied ich mich dafür, auf Ihre Beanstandung einzutreten, weil Sie eine interessante Frage aufwarfen: die Frage nämlich, ob für die journalistische Behandlung von Katalonien andere Maßstäbe gelten als für Kosovo. Die Medien in der Schweiz haben die Sezession Kosovos von Serbien eher begrüsst, die versuchte Sezession Kataloniens von Spanien eher skeptisch beurteilt. Ich wollte daher von der Redaktion wissen, ob es eigentlich eine Doktrin gibt und ob diese sich von der offiziellen Schweizer Außenpolitik unterscheidet oder sich mit ihr deckt.
A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:
«Sorry was ist Differenz zwischen Katalonien und Kosovo, was doppelt Standard oder was?!»
B. Die Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Die Antwort verfasste Herr Fredy Gsteiger, stellvertretender Chefredaktor von Radio SRF und diplomatischer Korrespondent:
«Besten Dank für die Gelegenheit, Stellung zu nehmen zur Beanstandung Nr. 5414 von X.
Für uns ganz wesentlich ist in diesem Zusammenhang zu unterstreichen, dass wir kein Staatssender sind. Wir sind ein von Gebührenzahlern finanziertes öffentliches Medium. Unsere Berichterstattung über die Schweizer Politik, auch die Schweizer Aussenpolitik, ist deshalb kritisch. Nicht alles, was die Regierung tut, wird von uns unterstützt.
Es ist daher nicht zulässig, von der Haltung der Schweizer Regierung auf unsere Berichterstattung zu schliessen. Da kann es durchaus Abweichungen geben – und es gibt sie auch des Öfteren. Im Fall der diplomatischen Anerkennung Kosovos durch die Schweiz haben wir seinerzeit in zahlreichen Berichten kritisch und kontrovers diskutiert, ob diese Entscheidung richtig und nötig war. Wir sind zum Schluss gekommen, dass sie völkerrechtlich nicht unproblematisch war. Und dass sie weit stärker geleitet war durch realpolitische als durch prinzipielle Überlegungen.
Für die Schweiz, die damals Zielland sehr vieler Flüchtlinge aus dem Kosovo war, ging es nicht zuletzt darum, für mehr Stabilität im Kosovo zu sorgen, um so den Zuwandererzustrom zu bremsen. Die Anerkennung der Unabhängigkeit galt als Schritt, um dieses Ziel zu erreichen. Genauso wie die Schweiz handelten zahlreiche andere europäische Staaten – manche räumten ihre Beweggründe deutlich ein, andere weniger.
Der Fall Katalonien ist realpolitisch anders gelagert. Es gibt keine katalonischen Flüchtlinge in der Schweiz – ausgenommen Einzelfälle von politischen Aktivisten. Insofern gibt es für die Schweizer Regierung keinerlei ‹realpolitischen Zwang›, Katalonien als unabhängigen Staat anzuerkennen. Aus völkerrechtlichen oder prinzipiellen Gründen ergibt sich ebenfalls keine Notwendigkeit dafür.
Dazu kommt ein wichtiger Unterschied: über die Behandlung der albanisch-stämmigen Bevölkerung durch Serbien ist viel berichtet worden. Es gibt inzwischen fundierte Untersuchungen internationaler Organisationen wie der OSZE, der Uno, der EU und von Menschenrechtsorganisationen. Sie alle machen deutlich, dass das Los der Albaner im damals serbischen Kosovo nicht gleichzusetzen ist mit jenem der Katalanen in Spanien. Gewiss macht sich auch die spanische Regierung nicht besonders stark für den Schutz von Minderheiten. Aber es kann in Katalonien keine Rede sein von einer systematischen Benachteiligung, Ausgrenzung oder Unterdrückung. Auch das thematisieren wir in unserer Berichterstattung regelmässig.
Unabhängig davon bleibt es aber eine Tatsache, dass Regierungen - keineswegs nur europäische - bei der Anerkennung von Staaten (Kosovo, Palästina, Taiwan) oder bei Besetzungen (Krim, Tibet) nicht konsequent das völkerrechtliche Prinzip der Unverletzbarkeit hoheitlicher Territorien hochhalten, sondern oft opportunistisch oder eben ‹realpolitisch› entscheiden.
Das aufzuzeigen und darüber hinaus darzustellen, wie Sezessionsbewegungen legitimiert sind, ist Aufgabe von unabhängigen Medien wie Radio SRF. Und genau das haben wir sowohl im Fall des Kosovo als auch im Fall Katalonien getan und tun es weiterhin.
Wir bitten Sie deshalb, sehr geehrter Herr Blum, die Beanstandung abzulehnen.»
C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Problematik. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Unabhängigkeit Kosovos aus serbischer Sicht nach wie vor mit Gefühlen wie Schmerz, Wut oder verletztem Stolz verbunden ist, besonders dann, wenn die eigene Familie im Kosovo gelebt hat oder immer noch lebt. Aber Kosovo war in der Tat in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, die Josip Broz Tito gezimmert hatte, benachteiligt: Während die Serben, die Kroaten, die Slowenen, die Mazedonier und die Montenegriner ihre je eigene Republik hatten und die muslimischen Bosniaken in der Republik Bosnien-Herzegowina immerhin die knappe Mehrheit bildeten, verfügten die Albaner des Kosovo über keine eigene Republik, sondern waren bloß eine Autonome Provinz Serbiens. Dies war für die andere Autonome Provinz Serbiens, die Vojvodina, weniger stoßend, weil dort 67 Prozent Serben leben und bloß 13 Prozent Ungarn. Aber es war stoßend für Kosovo mit 88 Prozent Albanern und bloß 7 Prozent Serben. Weitere Diskriminierungen sowie der Kosovo-Krieg mit internationaler Intervention trieben dann Kosovo 2008 geradezu in die Unabhängigkeit.
Dies war aber in der Völkergemeinschaft, wie Herr Gsteiger schreibt, kein eindeutiger Fall: Erst 113 der 193 Mitglieder der Uno, erst 23 der 28 EU-Staaten, erst 25 der 28 NATO-Länder, erst 36 der 57 Mitglieder der Organisation der Islamischen Zusammenarbeit haben Kosovo diplomatisch anerkannt. Unter jenen, die bisher die Anerkennung verweigerten, sind – neben Serbien - Spanien, Griechenland, Rumänien, Russland, die Ukraine, Weißrussland, China, Indien, Mexiko, Brasilien, Argentinien, Chile sowie eine ganze Reihe Länder Zentral- und Südafrikas sowie Südostasiens. Kosovo ist bis jetzt nicht im Europarat und nicht in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), aber im Internationalen Währungsfonds und in der Weltbankgruppe.
Die Schweiz war an vorderster Front bei der Anerkennung Kosovos dabei. Die realpolitischen Gründe dafür hat Herr Gsteiger erläutert. Bei Katalonien ist die Situation anders. Auch dies hat Herr Gsteiger ausgeführt. Und der Völkerrechtler Daniel Högger hat in der NZZ noch weitere Gründe für den Unterschied herausgearbeitet.[1]
Vor allem aber muss unterschieden werden zwischen dem Staat und den Medien. Ein Staat wie die Schweiz muss in der Völkergemeinschaft Position beziehen. Er kann in Konflikten seine Neutralität erklären. Er kann Sanktionen mittragen oder auch nicht. Er muss darüber entscheiden, ob er neue Staaten diplomatisch anerkennt oder nicht. Er kann internationalen Organisationen beitreten und internationale Verträge abschließen. Die Schweiz als Staat hat internationale Verpflichtungen, und in ihrer Außenpolitik sollte sie verlässlich sein.
Das alles gilt für die Medien nicht. Sie beurteilen alle Akteure kritisch, auch die eigene Regierung. Schweizer Medien waren daher weder verpflichtet, die Unabhängigkeit Kosovos zu begrüßen, noch sind sie verpflichtet, die Segregation Kataloniens abzulehnen. Die Medien sind vom Staat unabhängig. Das gilt gerade auch für Radio und Fernsehen SRF. Es wird von ihnen nicht verlangt, dass sie zu jedem neuen oder zu jedem geplanten Staat eine feste Position haben. Sie sollen vor allen Fragen stellen und differenzieren. Ihre Richtschnur sind die Menschenrechte, die Demokratie, die politische Kultur, die Medienethik und die Grundsätze des Radio- und Fernsehgesetzes. Diese Prinzipien verfolgen sie unabhängig davon, ob ein Staat jung oder alt, von der Völkergemeinschaft anerkannt, teilweise anerkannt oder gar nicht anerkannt ist. Sollten Sie mit Ihrer Beanstandung den Verdacht gehabt haben, dass Radio und Fernsehen SRF mit zweierlei Ellen messen und Serbien systematisch schlechter behandeln als Spanien, dann kann ich die Beanstandung nicht unterstützen. Wenn es Ihnen aber vor allem um Aufklärung ging, dann sehe ich den Anstoß positiv.
D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.
[1] https://www.nzz.ch/meinung/warum-katalonien-nicht-kosovo-ist-1.18678098
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