Verklemmtheit und Lüge mit Massenapplaus
Zwei neue Webserien von SRF lösten Anfang Jahr so viele Beanstandungen aus wie noch nie: 9340 gleichlautende Eingaben. Die Ombudsstelle redet von einem «eindeutigen Missbrauch des Beanstandungsverfahrens». Hinter der Aktion steckt eine rechtspopulistische Gruppierung mit Basis im Ausland. Die Beanstandungen gegen «Dr. Bock» wies der Ombudsmann zurück, bei der Sendung handle es sich um «optimale Aufklärung». Roger Blum erläutert die Fälle.
In der Nacht vom 26. auf den 27. Januar 2018 begann die Mailbox der Ombudsstelle zu überlaufen. Im Zehnsekundentakt ratterten Beanstandungen über den Server – und zwar immer der gleiche Text mit einem jeweils anderen Absender. Das ging von Donnerstagnacht über das ganze Wochenende bis Dienstag so weiter. Die Mailbox war völlig zugemüllt. Es war ein eindeutiger Missbrauch des Beanstandungsverfahrens. Am Schluss waren es 9340 Eingaben. Als ich den Missbrauch öffentlich machte, stoppten die Urheber die direkte Weiterleitung der einzelnen Eingaben an die Ombudsstelle.
Die Einsender wandten sich gegen die Aufklärungsserien «Dr. Bock» und «Jenny-Wanessa», die sich an Jugendliche im Alter von 13 bis 17 Jahren richteten und als SRF-Videos auf YouTtube und im Webplayer liefen. Auf die Kritik an «Jenny-Wanessa» trat ich nicht ein, da die Serie bereits im April 2017 ausgelaufen war. Mit Zeitraumbeanstandungen können nur Sendefolgen beanstandet werden, deren erste Folge höchstens drei Monate zurückliegt. Auf die Klage gegen «Dr. Bock» hingegen trat ich ein.
Worum handelt es sich? Es geht um eine Sendefolge, die sich mit Fragen der Sexualität beschäftigt. Zwei junge Moderatoren – eine Frau und ein Mann – erläutern Schritt für Schritt konkrete Probleme. Es ist ein Ratgeber-Format, quasi ein audiovisuelles «Bravo». Die Beanstander kritisierten, dass die Sendereihe einer Frühsexualisierung Vorschub leiste: «Völlig skrupellos werden auf diese Weise Themen wie Pornographie, Selbstbefriedigung und Oralsex behandelt.» In der Serie würden «Kinder und Jugendliche in zutiefst anstössiger, ekelerregender Weise mit Themen konfrontiert, die jedem anständigen Menschen die Schamesröte ins Gesicht treiben.» Die sexuelle Aufklärung sei allein Sache des Elternhauses. Die Serie sei umgehend abzusetzen.
Christoph Aebersold vom Bereich «Junge Zielgruppen SRF» erläuterte in seiner Stellungnahme für die Ombudsstelle, warum eine Serie wie «Dr. Bock» wichtig und sinnvoll sei. Es gelte, die Jugendlichen, die durch Pornografie im Internet oft schockiert seien, aufzuklären und zu unterstützen. Die Serie lehne sich eng an den Lehrplan 21 an und diene dazu, das Elternhaus zu ergänzen. Viele Studien zeigten, dass Jugendliche in dem Alter stark verunsichert seien und Orientierung suchten.
Ich habe mir 13 Folgen der Serie «Dr. Bock» genau angeschaut, und ich fragte mich, ob das die 9340 Unterzeichner der Beanstandung auch getan haben. Wohl kaum! Denn die Serie wird in Deutschschweizer Dialekt ausgestrahlt, und die Mehrzahl der Beanstander kam aus Deutschland, Österreich und Südtirol und war schwerlich in der Lage, Schweizerdeutsch zu verstehen. Eine sorgfältige Analyse der Sendefolgen hätte ihnen auch gezeigt, dass die meisten Vorwürfe eine Lüge waren. Ich jedenfalls kam zum Schluss, dass die Videoserie «Dr. Bock» die Aufgabe, Jugendliche behutsam an die Sexualität heranzuführen, auf herausragende Weise erfüllt. Immer wieder weisen die Moderatoren Kevin und Sarah darauf hin, dass die jungen Leute beim Sex auf den Partner / die Partnerin Rücksicht nehmen sollen; dass man miteinander reden muss, sich Zeit nehmen muss, nur tun soll, was das Gegenüber auch mag. Nie werden die beiden obszön und grob. Es ist eigentlich nichts anderes als ein erzähltes Lexikon über Sexualität. Die beiden Moderatoren gehen sehr systematisch vor, sind aber dank ihrer Mimik, Gestik und Verspieltheit nie langweilig. Und ihr Ceterum censeo ist: sich schützen, schützen, schützen. Wenn das nicht optimale Aufklärung ist! Ich war begeistert. Die Serie ist sachgerecht und erfüllt alle Bedingungen des Jugendschutzes. Ich konnte daher die Beanstandung nicht unterstützen.
Ich jedenfalls kam zum Schluss, dass die Videoserie «Dr. Bock» die Aufgabe, Jugendliche behutsam an die Sexualität heranzuführen, auf herausragende Weise erfüllt.
Die Patrioten waren natürlich enttäuscht. Um allerdings ihr Gesicht zu wahren, griffen sie erneut zur Lüge und behaupteten, ich hätte «die expliziten sexuellen Inhalte von ‹Dr. Bock› unter anderem mit allgegenwärtiger Pornographie, der Verbreitung perverser Sexualpraktiken in der Bevölkerung und den Lehrplänen, die die Genderideologie und Frühsexualisierung als verpflichtenden Schulstoff vorschreiben» gerechtfertigt. Ich würde die Sexualaufklärung «zur quasistaatlichen Aufgabe von Schule und Medien» erheben und «gleichzeitig dem Elternhaus die Fähigkeit dazu» absprechen, indem ich «Eltern unter Generalverdacht» stelle. Zynisch würde ich fragen: «Wie viele Väter, die ihre Frau schlagen und vergewaltigen und ihre Kinder züchtigen, wären überhaupt in der Lage, von Behutsamkeit und Zärtlichkeit zu reden?» Dieser letzte Satz ist authentisch. Alles andere ist erlogen.
Wer sind die «Patrioten»?
PatriotPetition.org nennt sich «eine Initiative aufrechter Patrioten», die sich unter dem Motto «Wir sind das Volk» gegen die Homo-Ehe, für den Erhalt der deutschen Nationalhymne, gegen den Bau von Moscheen, gegen die Islamisierung des Abendlandes, gegen die Frühsexualisierung, gegen Abtreibungswerbung, für den Erhalt des Erbrechts, gegen Rundfunkgebühren, für die Wiederherstellung des Bankgeheimnisses, gegen Scheinasylanten, für die christliche Tradition und für den Nationalstaat einsetzt. Mit ihren Petitionen, von denen sie bereits 33 gestartet hat und die online unterzeichnet werden können, kann sie jeweils bis zu 15 000 Menschen hinter sich scharen. Die anonyme Zentrale befindet sich in Deutschland. Über Anhänger verfügt die rechtspopulistische, antielitäre und antiaufklärerische Aktion auch in der Schweiz, in Österreich und in Südtirol.
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