Sendung «Zytlupe»/«Ristretto» «Glauben auf Ungarisch» beanstandet
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Mit Ihrer E-Mail vom 10. April 2018 beanstandeten Sie die Sendung «Ristretto» (Radio SRF) vom gleichen Tag zum Thema «Glauben auf Ungarisch».[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann folglich darauf eintreten.
A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:
«Ich ersuche Sie um Beurteilung des in der heutigen Morgensendung auf SRF1 um ca. 06.40 h ausgestrahlten Satire-Beitrags zu den jüngsten Wahlen in Ungarn. Darin wird Ministerpräsident Viktor Orban mit einem – sic – ‹Arschloch› gleichgesetzt, und die ungarischen Wählerinnen und Wähler werden mit Arschbacken verglichen.
Ich bitte Sie um die Beurteilung des erwähnten Beitrags: Entspricht der Beitrag den Art. 4 & 5 RTVG?»
B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Frau Dr. Anina Barandun, Redaktionsleiterin Hörspiel und Satire, SRF Kultur, schrieb:
«Herr X formuliert seine Beanstandung der Satire-Sendung ‹Ristretto› als konkrete Frage: <Entspricht der Beitrag den Art. 4 & 5 RTVG?>
Simon Chens Satire-Beitrag greift Viktor Orbans Wahlsieg vom 8. April auf. Die Indizien, dass der zum dritten Mal wiedergewählte Ministerpräsident Orban demokratiefeindliche Ziele verfolgt, beunruhigen viele Menschen in ganz Europa. Ein hochaktuelles Beispiel: Am Tag der Ausstrahlung von Simon Chens Satire-Beitrag (Dienstag, 10. April) gab die letzte regierungsunabhängige Zeitung Ungarns, ‘Magyar Nemzet’, bekannt, dass sie ihren Betrieb per sofort einstellen müsse.
Die Passage in Simon Chens satirischer Kolumne, auf die sich Herr X bezieht, ist folgende: <Aber Demokratie isch Demokratie, s Volk het s letschte Wort. Ohne Wähler kei Gwählti, erscht s Fleisch drumume macht useme Arsch es Arschloch, wenn d weisch, was i meine. Das Fleisch drumume nennt me under Politologe drum au Wähler-Späck-drum>.
Herr X paraphrasiert: Im Beitrag von Simon Chen <wird Ministerpräsident Viktor Orban mit einem – sic – <Arschloch> gleichgesetzt, und die ungarischen Wählerinnen und Wähler werden mit Arschbacken verglichen.>
Auch wenn es Simon Chen nicht offen ausspricht, sondern sozusagen hinter vorgehaltener Hand (<wenn d weisch, was i meine>), so hat Herr X den Satiriker durchaus richtig verstanden. Simon Chen kritisiert Viktor Orbans Wahlkampf, geht jedoch auf keine Details ein. Er bleibt allgemein und zielt auf das Wortspiel. Diese Pointe ist rein sprachlicher Natur und im Grunde genommen verharmlost sie die vorangegangene Kritik an den Wahlen in Ungarn.
Herr X vermutet in Simon Chens Beitrag eine Verletzung der Artikel 4 und 5 des RTVG.
In Bezug auf Herrn Xs Beanstandung ist Abschnitt 2 von Artikel 4 RTVG entscheidend: <Ansichten und Kommentare müssen als solche erkennbar sein.> Umrahmt von einer entsprechenden Moderation und dem Signet ‹Ristretto. Schwarz und stark› war dies beim Beitrag von Simon Chen zweifellos der Fall.
Der Satiriker hat die Aufgabe, aus seiner subjektiven Warte heraus ein reales Ereignis überzeichnet und zugespitzt darzustellen. Die Position des Satirikers ist also der genaue Gegenpol zum Journalisten, der stets der Ausgewogenheit verpflichtet ist.
Simon Chen hat seine satirische Freiheit genutzt, ohne ihre Grenzen zu verletzen. Anders als im umstrittenen ‹Fall Böhmermann› (Wir erinnern uns: Jan Böhmermann hatte dem türkischen Präsidenten Erdogan ein perverses Sexualverhalten angedichtet), nimmt Simon Chen den ungarischen Präsidenten nicht als Privatmann ins Visier, sondern als streitbaren Staatsmann. Politiker, die in der Öffentlichkeit eine klare Sprache sprechen (<Man will uns unser Land nehmen, Migranten werden europäische Grossstädte besetzen>, Viktor Orban im Februar 2018), müssen mit Widerworten rechnen und leben.
Artikel 5 RTVG verbietet ‹jugendgefährdende Sendungen›. Welche Stelle des Beitrags von Simon Chen die Entwicklung Minderjähriger gefährden könnte, erschliesst sich uns nicht. Sollte sich die Befürchtung auf den Gebrauch des Schimpfworts ‹Arschloch› beziehen, sei daran erinnert, dass diese Vokabel seit Jahrzehnten zur Jugendkultur gehört. In den Songtexten der erfolgreichsten deutschen Rockbands (‹Die Ärzte›, ‹Die Toten Hosen› oder ‹Die Fantastischen Vier›) kommt das Wort schon lange vor, und diese Songs sind auf allen Radiosendern, privaten wie öffentlich-rechtlichen, zu hören. Selbst renommierte Akademiker haben keine Berührungsängste. So erschien im vergangenen Februar im Piper Verlag ein Ratgeber von Robert I. Sutton, Professor an der Eliteuniversität Stanford, mit dem Titel ‹Überleben unter Arschlöchern›.
Satire ist oftmals eine Gratwanderung – je pointierter, desto schmaler der Grat. Und Satire ist immer Geschmackssache. Man mag Simon Chens Sprachspiele mögen oder seine Wortwahl als grob, unanständig und respektlos empfinden. Wie Simon Chen in seinem Satire-Beitrag seine Meinung äussert, ist kein Verstoss gegen das RTVG, sondern sein demokratisches Recht.»
C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Im satirischen Kaffeeschwatz nimmt Simon Chen Orbáns Wahlsieg in Ungarn aufs Korn. Satire darf (fast) alles, sie muss bloss auf einem wahren Kern beruhen. Und: Sie darf sich nicht über angeborene oder vererbte Eigenschaften (wie: Körpergröße, Religionszugehörigkeit, Ethnie) lustig machen, sondern sie muss Neigungen, Handlungen, Fehlleistungen ins Visier nehmen. Nun kann man nicht behaupten, dass Victor Orbán eine besonders liberale, offene, solidarische, altruistische Politik betreibt, vielmehr tendiert er zu Egoismus, Nationalismus, Rassismus, Dirigismus, Rücksichtslosigkeit, Aggressivität. Wie nennt man einen Menschen, der im Tram niemandem den Sitz anbietet, in der Warteschlange vordrängt, beim Bäcker den anderen das letzte Gipfeli wegschnappt, in der Bahn laut telefoniert, mit dem Auto andern den Weg abschneidet, nachts laute Musik laufen lässt, andere zusammenstaucht usw.? Einen rücksichtslosen Rüpel beispielsweise. Simon Chen greift, wenn auch indirekt, zu einem noch drastischeren Begriff. Gewiss hätte man das Gleiche auch eleganter sagen können. Etwa so, wie der Schnitzelbänkler «Standpauke» in den sechziger Jahren an der Basler Fasnacht den konservativen und rassistischen amerikanischen Senator Barry Goldwater, den republikanischen Präsidentschaftskandidaten der Wahlen von 1964, charakterisierte:
<Urin duet me’s in Ditschland nenne, Als Pisse duet me ́s in Frankrych kenne, El Saichos haisst ́s in Malaga, Goldwater sait me z’USA!>
Da waren Wortspiel und inhaltliche Aussage zusammengeflossen. Simon Chen wird nicht derart elegant deutlich, aber er wählt die harte Charakterisierung nicht ohne Grund, und deshalb halte ich den Rahmen der Kommentarfreiheit und der Kunstfreiheit nicht für gesprengt. Ich unterstütze deshalb Ihre Beanstandung nicht.
D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.
[1] https://www.srf.ch/sendungen/zytlupe/glauben-auf-ungarisch-mit-simon-chen
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