Beitrag «Zeichen zwischen der Schweiz und der EU auf Annäherung» der «Tagesschau» beanstandet

5475
Mit Ihrer E-Mail vom 19. Mai 2018 beanstandeten Sie die «Tagesschau» (Fernsehen SRF) vom 1. Mai 2018 und dort den Beitrag über den Stimmungswandel in der Schweiz zu einem Rahmenabkommen mit der EU.[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann folglich darauf eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

«Die Tagesschau vom 1. Mai 2018, 19.30 Uhr verstösst gegen das Sachgerechtigkeitsgebot: Moderatorin Katja Stauber verkündet eine Kehrtwende in der Europapolitik. In Sachen Rahmenabkommen mit der EU drehe die Stimmung im Volk, wie neueste Umfragewerte zeigten. Tagesschau-Redaktor Christoph Nufer doppelt nach: Mit gestärktem Rückgrat habe Berset das Europa Forum betreten. Getragen zu ersten positiven Umfragewerten zu einem Rahmenabkommen.

Diese Information entspricht nicht den Tatsachen, bzw. ist nicht sachgerecht dargestellt, so dass dem Publikum suggeriert wird, eine Mehrheit des Schweizer Volks sei für ein Rahmenabkommen.

In der Umfrage[2] steht auf Seite 10 klar:

<Eine Weiterentwicklung der Bilateralen in Form eines institutionellen Rahmenabkommens findet aktuell keine Mehrheit.> Genauer sind es nur 31% der Schweizer, die ein Rahmenabkommen befürworten. Weiter steht in der Umfrage: <Die zukünftige Entwicklung der Beziehung Schweiz-EU wollen 63% der Befragten auf dem jetzigen Niveau beibehalten oder reduzieren. Nur 29 Prozent möchten die Beziehungen ausdehnen.> <Weiter befürworten nur noch 13 Prozent der Befragten einen EU-Beitritt.>

Warum kommen die beiden Journalisten auf die Idee, dass sich im Volk die Stimmung dreht oder dass das Volk ein Rahmenabkommen befürwortet?»

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die Redaktion der «Tagesschau» antwortete Herr Franz Lustenberger:

«Mit Mail vom 19. Mai hat Frau X eine Beanstandung gegen den Beitrag über das Europa-Forum in der Tagesschau vom 1. Mai eingereicht.

Europa-Forum

Am jährlich stattfindenden Europa-Forum in Luzern wird jeweils der Puls in Sachen Europa-Politik gefühlt. Es nehmen Befürworter und Gegner einer Annäherung der Schweiz an die EU teil. Bundespräsident Alain Berset und die anwesenden Botschafter aus EU-Ländern stellen einen Stimmungswandel zugunsten eines Rahmenabkommens fest. Man spricht von einem hohen gegenseitigen Interesse. Markus Somm, Chefredaktor der Basler Zeitung BaZ, verweist im Ausschnitt aus der Podiumsdiskussion auf den Sonderfall Schweiz hin, er wendet sich damit gegen ein Rahmenabkommen mit der EU.

Schweizer Radio und Fernsehen haben schon mehrfach über ein mögliches Rahmenabkommen mit der EU berichtet. Erst kürzlich in einer Arena, in der die innenpolitische Auseinandersetzung im Vordergrund stand.[3]

Im beanstandeten Beitrag ging es um Stimmungen und Meinungen am Europaforum. Es ist doch interessant, wie Vertreterinnen und Vertreter aus den EU-Staaten die Stimmung und die politische Diskussion in der Schweiz wahrnehmen. Der Beitrag ist also ein kleines Puzzleteilchen in einer grossen Thematik, welche die Schweiz in den nächsten Jahren beschäftigen wird und muss. Gerade angesichts der weltweiten Differenzen (Handelsstreit mit den USA, Eklat am G7-Treffen als jüngste Beispiele) ist die Rolle Europas und der Zusammenhalt in Europa von grossem Interesse. Die Schweiz ist geographisch Teil Europas und durch viele Verträge mit der EU verbunden.

Rahmenabkommen

Die Tagesschau hat von einem Stimmungswandel in den Verhandlungen mit der EU gesprochen. Konkret: Bis vor kurzem wurde es als ‹chancenlos› bezeichnet. Jetzt zeigt sich eine offenere Haltung; die Verkrampfung beginnt sich auf beiden Seiten zu lösen.

Dieser Stimmungswandel war auch am Europa-Forum zu beobachten. Wie die Schweizer Bevölkerung später zu einem Rahmenabkommen steht, kann auch erst fundiert mit einer Umfrage erhoben werden, wenn ein konkretes Verhandlungsergebnis vorliegt, das dem Parlament und dem Stimmvolk zur Abstimmung unterbreitet wird. Wenn also Nägel mit Köpfen gemacht sind. Gerade die neusten Äusserungen von Bundesrat Ignazio Cassis zu den flankierenden Massnahmen und die daraus entstandene Kontroverse belegen, dass der Schweiz noch ein intensiver politischer Prozess rund um ein Rahmenabkommen bevorsteht. Die Stimmung kann schnell auch wieder drehen.

Die Tagesschau hat über die GFS-Umfrage ‹Verbindliche gemeinsame Streitschlichtung erwünscht› nicht ausführlich berichtet. Sie hat die Ergebnisse in den Text und die Fragestellungen am Europa-Forum einfliessen lassen. Die Ergebnisse der Umfrage stützen die Aussage, dass sich die Stimmungslage in der Bevölkerung verändert hat.[4]

So werden die bilateralen Verträge nur noch von 18 Prozent als ‹nachteilig› oder ‹eher nachteilig› beurteilt (Grafik 1). Das Bild zu den Bilateralen ist positiver als noch vor einem Jahr. Die Pro-Argumente rund um die Bilateralen gewinnen an Bedeutung (Grafik 3), die Contra-Argumente verlieren an Zustimmung (Grafik 4).

Eine verbindliche gemeinsame Streitschlichtung wird von insgesamt 68 Prozent ‹bestimmt› oder ‹eher› befürwortet (Grafik 5). Diese gemeinsame verbindliche Streitschlichtung ist ein wichtiges Element eines künftigen Rahmenabkommens. 85 Prozent der Befragten sind mit einem Verfahren zur Streitbeilegung voll oder eher einverstanden (Grafik 6).

In der Frage nach den Varianten im Schlichtungsverfahren erhält ein gemeinsames Schiedsgericht eine Mehrheit von 54 Prozent (Grafik 7). Diese Frage nach der Zustimmung zu einem Schiedsgericht wurde erstmals erfasst. Der Bundesrat wird in seinen Verhandlungen zu einem Rahmenabkommen durch dieses Ergebnis gestützt, weil ein Schiedsgericht ein zentraler Punkt dieser Verhandlungen ist.

Die Beanstanderin verweist in ihrer Kritik zu Recht auf den Punkt hin, dass nur 31 Prozent der Befragten ‹eine Weiterentwicklung der Bilateralen in Form eines institutionellen Rahmenabkommens› befürworteten (Grafik 10). Die Beanstanderin lässt aber den zweiten Teil der Fragestellung weg, nämlich, ‹auch wenn damit die Übernahme von EU-Recht und EU-Richtern verbunden ist›. Wichtig für die Beurteilung eines Rahmenabkommens wird es sein, ob es dem Bundesrat gelingt, im Vertrag eine gemeinsame Streitschlichtung zu verankern, oder ob ein Automatismus in der Rechtsübernahme vereinbart wird.

Die Schweiz und die EU sind in einem frühen Stadium der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen. Ohne Kenntnis des Vertragsinhaltes sind Umfrage-Ergebnisse daher mit äusserster Vorsicht zu interpretieren. Dies gilt für die Position der Beanstanderin, die sich in der aktuellen Umfrage bestätigt sieht, dass derzeit eine Mehrheit in der Bevölkerung ein Rahmenabkommen ablehnt.

Der Grundsatz der Vorsicht gilt aber auch für die Berichterstattung in der Tagesschau und bei SRF generell. Mit der Formulierung ‹Jetzt kehrt die Stimmung› wird eine Momentaufnahme überinterpretiert.

Fazit

Der Beitrag berichtet von einer Entspannung in der Diskussion und einer offeneren Haltung in der Bevölkerung. Die hohe Zustimmung zu einem Schiedsverfahren ist Ausdruck einer offeneren Diskussion in der Schweiz Die Formulierung ‹die Stimmung zu einem Rahmenabkommen kehrt› kann als Überinterpretation einer Momentaufnahme verstanden werden. Denn im Laufe des Verhandlungsprozesses – je nachdem welches Detail in der Öffentlichkeit bekannt wird – könnte diese Stimmung sich noch mehrmals verändern. Das heisst für die Tagesschau, mit Interpretationen von Umfragen und Aussagen zurückhaltend zu sein.

Gesamthaft hat der Beitrag aber ein zuverlässiges Stimmungsbild mit Blick auf die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen geliefert. Zwar nicht in der Bevölkerung, sondern bei Bundesrat und bei EU-Vertretern, welche die Schweiz und ihre Mechanismen kennen. Der Bericht über das Europa-Forum ist ein Beitrag zur Meinungsbildung aus einer anderen Sicht. Den Verhandlungsprozess und die politische Kontroverse nach Abschluss eines Rahmenabkommen werden die Tagesschau und SRF in Zukunft noch intensiv beschäftigen.

Ich bitte Sie, die Beanstandung in diesem Sinne zu beantworten.»

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Was war die Ausgangslage? Erstens hatte die Interpharma beim Forschungsinstitut GfS Bern eine repräsentative Meinungsumfrage über die Beziehungen Schweiz-EU in Auftrag gegeben. Über diese Umfrage hat die «Tagesschau», nicht in der von Ihnen beanstandeten Sendung, aber am 29. April 2018 ausführlich berichtet.[5] Zweitens fand am 30. April 2018 in Luzern die Abendveranstaltung des Europa-Forums statt, an dem neben Bundespräsident Alain Berset auch EU-Repräsentanten und Botschafter von EU-Mitgliedsländern zugegen waren. Der «Tagesschau»-Beitrag vom 1. Mai 2018 knüpft an die Umfrage an und macht aufgrund von Aussagen an der Tagung zwei Feststellungen:

1. Die Umfrage zeigt einen tendenziellen Meinungsumschwung an, jedenfalls eine größere Bereitschaft in der Bevölkerung als früher, verschiedene Varianten in Erwägung zu ziehen.

2. Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind entspannter. Aussenminister Ignazio Cassis ist es offensichtlich gelungen, besser verständlich zu machen, wie die Schweiz funktioniert und worin die Win-Win-Situation für beide Partner besteht.

Es waren also zwei Faktoren, die zur Feststellung führten, dass die Stimmung drehe: Einerseits die Ergebnisse der Umfrage, anderseits das Echo der EU auf Cassis. In der Umfrage ist die Gruppe der Anhänger eines Alleingangs im Vergleich zu den letzten vier Befragungswellen geschmolzen. Und der Satz, den Sie zitieren, steht zwar im Forschungsbericht von GfS, aber er wird durch die Ergebnisse der Umfrage nicht gedeckt. Diese zeigen vielmehr, dass im März/April 2018, als die repräsentative Befragung durchgeführt wurde, 75 Prozent der Befragten neuen Teilabkommen, Aktualisierungs- und Schlichtungsverfahren zustimmen, und das ist ja genau das, was das Rahmenabkommen beinhalten soll. Und 68 Prozent wollen ‘bestimmt’ oder ‘eher’ EU-Recht zwar nicht automatisch, aber verpflichtend übernehmen.[6]

Auch wenn die Qualifizierung, dass «die Stimmung drehe», etwas übertrieben war, so war die Sendung doch im Ganzen sachgerecht. Sie hat sich durchgehend auf Fakten gestützt. Ich kann daher Ihre Beanstandung nicht unterstützen.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

[1] https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/zeichen-zwischen-der-schweiz-und-der-eu-auf-annaeherung?id=f6e5a7b5-0679-4e59-8d6c-385f6876f75a

[2] http://www.gfsbern.ch/de-ch/Detail/bilaterale-verbindliche-gemeinsame-streitschlichtung-gewuenscht

[3] https://www.srf.ch/play/tv/arena/video/wie-viel-eu-braucht-die-schweiz?id=19ea42d1-6df2-4d47-b303-30ca02e57400

[4] Vgl. Beilage Umfrage

[5] https://www.swissinfo.ch/ger/umfrage-zu-europapolitik_schweizer-volk-steht-hinter-der-regierung/44084442

[6] http://www.gfsbern.ch/de-ch/Detail/bilaterale-verbindliche-gemeinsame-streitschlichtung-gewuenscht

Tags

Alle Schlussberichte der Ombudsstelle jetzt ansehen

Kommentar

Bitte beachten Sie, dass Ihr Kommentar inkl. Name in unserem LINK-Magazin veröffentlicht werden kann

Leider konnte dein Kommentar nicht verarbeitet werden. Bitte versuche es später nochmals.

Ihr Kommentar wurde erfolgreich gespeichert und wird nach der Freigabe durch SRG Deutschschweiz hier veröffentlicht

Weitere Neuigkeiten