«Tagesschau»-Beitrag «90 Jahre Tim und Struppi» beanstandet

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Mit Ihrer E-Mail vom 14. Januar 2019 beanstandeten Sie die «Tagesschau» (Fernsehen SRF) vom 10. Januar 2019 und dort den Beitrag «90 Jahre Tim und Struppi». [1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann folglich darauf eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

«Der Beitrag ist nicht ausgewogen, sondern krass und vorsätzlich einseitig, weil er folgende Fakten ausblendet: Hergé hat hat Wahlplakate und Bücher von belgischen Faschisten illustriert und mit ‘Hergé’ signiert, er hat während der deutschen Besatzung antisemitische Karikaturen und Comics für ‘Le Soir’ gezeichnet, dem Propagandaorgan der Nazis. Er wurde nach dem Krieg viermal wegen Kollaboration mit den Nazis verhaftet, verlor für zwei Jahre die Bürgerrechte und wurde mit einem Berufsverbot belegt. All diese Fakten sind für jeden überprüfbar. Ich habe in meinem Roman WARTEN AUF HERGE im Anhang 143 Quellenangaben aufgeführt. [2]

Es ist unbestritten, dass der Comic-Zeichner Hergé Grossartiges geleistet hat, aber privat alles andere als grossartig war. Der Bericht der Tagesschau ist unausgewogen. Dass sie den rassistischen Band TIM IM KONGO erwähnen (und ihn gleichzeitig mit einem Gerichtsurteil relativieren) ist legitim, aber der eigentliche Skandal ist nicht Rassismus, sondern die Kongogräuel des belgischen Königs, die zehn Millionen Kongolesen auf den Kautschuk-Plantagen das Leben gekostet haben. Als Hergé 1930 den Band schrieb, lag der Völkermord zweiundzwanzig Jahre zurück. Er arbeitete auf der Redaktion des Vingtième Siècle und hat angeblich nichts davon gewusst. Können wir uns heute noch an den Holocaust erinnern, der rund 70 Jahre zurückliegt?

Hergé hat bereits als 17jähriger sein erste antisemitische Karikatur verkauft, publiziert und mit Hergé signiert. Er war ein Leben lang Antisemit. Obwohl alle Alben unzählige Male überarbeitet wurden hat er den hinterhältigen jüdischen Bankier mit Hakennase im GEHEIMNISVOLLEN STERN stets beibehalten, obwohl er auf Anfrage wiederholt versprach, ihn zu ändern.

Ich habe all diese Fakten nicht nur in meinem Roman dramatisiert, sondern separat in einem 40seitigen Essay ‘90 Jahre Tim und Struppi’ publiziert, der in div. Medien im In- und Ausland ganz oder teilweise abgedruckt wurde und wird und auf Amazon auf der Bestsellerliste war.[3] Exemplare erhielten auch die Redaktionen von SRF. Damit die Redaktion im Hinblick auf den 90. Geburtstag von Tintin die notwendigen Fakten haben. Der Bericht der Tagesschau ist somit vorsätzlich unausgewogen.

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die «Tagesschau» antworteten Frau Regula Messerli, Redaktionsleiterin, und Frau Corinne Stöckli, Mitarbeiterin SRF:

«Herr X beanstandet den Beitrag ’90 Jahre Tim und Struppi’, den wir in der Hauptausgabe der Tagesschau vom 10. Januar 2019 ausgestrahlt haben.

Anlässlich des Jubiläums der Comic-Figuren Tim und Struppi hat die Hauptausgabe der Tagesschau einen Beitrag über die Ursprünge der Figuren, deren Wiedererkennungswert und deren Erfolg publiziert. Dabei wurde der Band ‘Tim im Kongo’ und die Kritik daran speziell hervorgehoben.

Der Beanstander ist nun der Meinung, der Bericht sei ‘krass und vorsätzlich einseitig’, weil er folgende Fakten ausblende: Hergé habe Wahlplakate und Bücher von belgischen Faschisten illustriert und mit ‘Hergé’ signiert, er habe während der deutschen Besatzung antisemitische Karikaturen und Comics für ‘Le Soir’ gezeichnet, dem Propagandaorgan der Nazis. Er sei nach dem Krieg viermal wegen Kollaboration mit den Nazis verhaftet worden, habe für zwei Jahre das Bürgerrecht verloren und sei mit einem Berufsverbot belegt worden. Weiter schreibt der Beanstander: <Hergé hat bereits als 17-Jähriger seine erste antisemitische Karikatur verkauft, publiziert und mit Hergé signiert. Er war ein Leben lang ein Antisemit.>

Der Beanstander wirft uns also nicht etwa vor, dass die von uns im Beitrag erwähnten Fakten falsch seien. Er meint aber, dass der Bericht ‘vorsätzlich unausgewogen’ sei, weil wir Hergés antisemitische Aktivitäten nicht erwähnt hätten. Damit sind wir nicht einverstanden und legen gerne unsere Sichtweise dar.

Im beanstandeten Bericht ging es nicht etwa um den 90. Geburtstag von Hergé, sondern vielmehr um das 90-Jahre-Jubliäum von Tim und Struppi. Im Zentrum des Berichts stand also nicht der Autor, sondern ein konkreter Teil seines vielseitigen Werkes, nämlich die Comic-Serie ‘Tim und Struppi’. Dabei ging es hauptsächlich um die Ursprünge der Figuren, deren sprachlichen und visuellen Wiedererkennungswert, sowie deren weltweiten Erfolg. Speziell hervorgehoben wurde im Beitrag der umstrittene Band ‘Tim im Kongo’. Im Beitrag sieht man deutlich, wie stereotyp die Afrikaner in diesem Band dargestellt worden sind. Wörtlich hiess es im Beitrag dazu:

Für Diskussionen sorgt heute insbesondere ‘Tim im Kongo’, das zweite Album: Afrikaner würden darin als dumm und arbeitsscheu gezeigt, fand ein kongolesischer Student 2011 und wollte den Band verbieten.

Das Gericht lehnte seine Klage ab, der Comic widerspiegle die Darstellung von Afrikanern in jener Zeit. Der Band von 1930 sei, im Zeit-Kontext gesehen, nicht rassistisch, befindet auch ein neues Buch:

Philippe Godin, Buchautor und Hergé-Experte:
<Es ist erst der zweite Band – das muss man berücksichtigen, um Hergé diese Art von Improvisation zu vergeben. Das ist noch nicht der Tim, den wir kennen.>

Wir haben im kurzen, rund zweiminütigen Beitrag über Tim und Struppi also durchaus auch einen kritischen Aspekt der Comic-Serie thematisiert. Eine Vertiefung der ‘Kongogräuel des belgischen Königs’, wie sie sich der Beanstander offenbar gewünscht hätte, hätte den zeitlichen Rahmen des Beitrages bei Weitem gesprengt. Dies hätte auch ein Hinweis auf Hergés Verbindung zu den Nazis, zumal ein kurzer Hinweis nicht genügt, sondern weitere Fragen aufgeworfen hätte (z.B. wie er später dazu stand).

Wir anerkennen, dass sich der Beanstander intensiv mit Hergés Vergangenheit und seiner Gesinnung befasst hat. Hinsichtlich unseres Beitrages möchten wir deshalb noch einmal deutlich festhalten, dass darin nicht Hergé, sondern Tim und Struppi im Zentrum standen. Auf diese Unterscheidung zwischen Figuren und Schöpfer beruft sich auch der Beanstander in einem Interview mit Tele Basel (vgl. Time Code 3:08).[4]

<Ich bin ein grosser Tim und Struppi Fan – und bin es immer noch. Ich trenne die Figuren und den Schöpfer - der Grossartiges geleistet hat, aber alles andere als grossartig war.>

In unserem Beitrag über die Comic-Serie war es also keineswegs zwingend, das Verhältnis ihres Schöpfers Hergé zu den Nazis und seine persönliche Gesinnung zu thematisieren. Genauso wenig wie es beispielsweise zwingend war, den angesehenen ‘Light of Truth’-Award zu erwähnen, den der Dalai Lama Hergé resp. seiner Stiftung 2006 verliehen hatte.

Umgekehrt möchten wir auf einen Bericht zur Hergé-Ausstellung in Paris hinweisen, den die Tagesschau am 27. September 2016 ausgestrahlt hat.[5] Die Ausstellung zeigte auf, dass Hergé nicht nur der Schöpfer von Tim und Struppi, sondern auch Maler, Grafikdesigner und Kunstsammler war. Anders als im beanstandeten Beitrag standen hier also Hergé und seine verschiedenen Seiten im Zentrum des Berichts. Konsequenterweise haben wir in diesem ähnlich langen Beitrag ausdrücklich auf Hergés Verbindung zu den Nazis verwiesen:

<Hergé verliert seine Unbeschwertheit im Zweiten Weltkrieg. Er publiziert Tim und Struppi im besetzten Belgien in einer Nazi-treuen Zeitung und er wird nach dem Krieg der Kollaboration beschuldigt.>

Jérôme Neutres, Ausstellungsmacher:
<Er hat wiederholte Male erklärt, wie es dazu kam. Sprach ohne Umschweife über seine Schuldgefühle und seine Feigheit, nicht den Mut aufgebracht zu haben, sich dem Widerstand anzuschliessen.>

Im Beitrag über Hergé von 2016 haben wir seine Verbindung zu den Nazis also durchaus erwähnt.

Zusammenfassend sind wir der Meinung, dass wir sachgerecht berichtet haben, so dass sich das Publikum eine eigene Meinung über die Hintergründe der Comic-Serie ‘Tim und Struppi’ bilden konnte. Die Erwähnung von Hergés Verhältnis zu den Nazis war im beanstandeten Beitrag nicht zwingend.

Wir bitten Sie deshalb, die Beanstandung nicht zu unterstützen.»

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Ich anerkenne, dass Sie ein profunder Kenner von Hergé sind. Das beweisen Sie mit ihren Publikationen und Auftritten. Und wie Sie selber sagen, gilt es zu unterscheiden zwischen dem großartigen Künstler und dem Mitläufer der Antisemiten und Faschisten. Wenn das Schicksal es fügt, dass eine Person zeitlebens oder zeitweise in einem totalitären System lebt, dann hat diese Person fünf Möglichkeiten:

  1. Täter-Variante: Sie gehört schon zum vorneherein der die Macht ausübenden Partei an oder tritt ihr aus Überzeugung oder aus Opportunismus bei und macht mit.
  2. Mitläufer-Variante: Sie passt sich an die Machthaber an und übernimmt deren Denken und Reden, ohne der machtausübenden Partei anzugehören.
  3. Duckmäuser-Variante: Sie ist zwar mit den Machthabern nicht einverstanden, hält sich aber still und duckt sich, um nicht aufzufallen.
  4. Exilanten-Variante: Sie ist gegen das Regime und geht ins Exil oder flüchtet ins Ausland.
  5. Résistance-Variante: Sie ist gegen das Regime und leistet passiven und aktiven Widerstand, offen oder im Untergrund, mit dem Risiko, verhaftet, gefoltert und hingerichtet zu werden.

Wenn ich es richtig sehe, so wählte Hergé die zweite Variante. Er war Mitläufer, nicht Täter. Er hat mit den Besatzern kollaboriert. Martin Heidegger beispielsweise wählte die erste Variante, Konrad Adenauer die dritte, Thomas Mann die vierte und Herbert Wehner die fünfte. Hergé übernahm stets die Ideologie seiner Patrons und Förderer. Er war wohl kaum ein überzeugter Nationalsozialist, aber er war ein Antisemit.

Ist ein Bericht über Tim und Struppi nicht vollständig, wenn die Gesinnung des Künstlers nicht erwähnt wird? Und müssen in einem Beitrag, der auch TIM IM KONGO kritisch behandelt, die üblen Massaker der Belgier in ihrem afrikanischen Kolonialgebiet erwähnt werden? Was ist zwingend in einem «Tagesschau»-Beitrag, damit er sachgerecht ist?

In einem Beitrag, der dem 90. Geburtstag von berühmten Comic-Figuren gewidmet ist, hat die Kolonialgeschichte nichts zu suchen. Umgekehrt reicht es nicht, vor fast zweieinhalb Jahren in einem «Tagesschau»-Beitrag auf Hergés Nazi-Nähe hingewiesen zu haben. Dies beweist zwar, dass die Redaktion sich des Tatbestandes bewusst ist. Aber das Publikum kann sich an eine Sendung vom September 2016 nicht mehr erinnern. Man muss dem Publikum vieles immer wieder neu in Erinnerung rufen. Aus diesem Grunde wäre es richtig gewesen, in einem Nebensatz auf Hergés Gesinnung hinzuweisen, etwa: «Hergé, der eine antisemitische Einstellung hatte und mit den Nazis sympathisierte». Auf diese Weise wäre er verortet worden. Da dies nicht geschehen ist, da ich aber einen Einbezug der Kolonialgeschichte verwerfe, kann ich Ihre Beanstandung teilweise unterstützen.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

[1] https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/90-jahre-tim-und-struppi?id=7f35e789-2cfd-44f2-a4d0-819f61884ce0

[2] http://www.cueni.ch/buecher/warten-auf-herge/

[3] https://www.amazon.de/90-Jahre-Tim-Struppi-kritischer-ebook/dp/B07JQ5K49C

[4] https://telebasel.ch/2018/11/13/duerfen-wir-noch-tim-struppi-lesen-claude-cueni/

[5] https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/herge-ausstellung-in-paris?id=0ab608f6-76c5-41c7-96f2-0cc20565806d

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