«Eine spannende Zeit für RTS - aber eine höllische Herausforderung»

Aufbruchstimmung bei RTS: Philippa de Roten, Mitglied der Geschäftsleitung und Leiterin des Bereichs Gesellschaft und Kultur, fasst zusammen, wo aktuell die ­wichtigsten Baustellen sind und in welche Richtung die Reise geht.

Die Sonne bricht durch die Wolken – das rot-weisse RTS-Signet leuchtet vom Hochhaus des Fernsehstudios am Quai Ernest-Ansermet über die Stadt. Am Ufer der Arve, die ein paar hundert Meter weiter mit der Rhone zusammenfliesst, flankiert von altehrwürdigen Universitätsgebäuden, steht im Herzen von Genf das Produktionszentrum des Westschweizer Fernsehens. Hier befindet sich das Hauptbüro von Philippa de Roten. Sie leitet den Bereich Kultur und Gesellschaft von RTS mit rund 430 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sowohl für Fernsehen, Radio und Internet produzieren. Weil sich die Zentrale des Westschweizer Radios in Lausanne befindet, pendelt die Chefin im Schnitt ein- bis zweimal pro Woche ins Waadtland.

Philippa de Roten: In Lausanne befinden sich die Studios etwas ausserhalb der Stadt. Hier in Genf sind wir mitten im Zentrum, mitten im Geschehen. Das ist eine riesige Chance, ein grosser Vorteil ...
LINK: Jetzt plant RTS aber einen Neubau auf dem Universitäts-Campus von Lausanne, wo analog zum SRF-Produktionsstandort Leutschenbach ein RTS-Zentrum für die Westschweiz entstehen soll.
Die Zusammenlegung der Aktualitätsredaktionen von TV und Radio in Lausanne ist ein Projekt, das wir für 2024 untersuchen. Dagegen gibt es politische Opposition auf lokaler und nationaler Ebene, genau wie in der Deutschschweiz. Unbestritten und beschlossen ist jedoch, dass die Radio- und Webmitarbeiterinnen und -mitarbeiter 2024 den Neubau auf dem Campus beziehen werden.

Gibt es in der Westschweiz Standortrivalitäten sowie Konfliktpotenzial zwischen unterschiedlichen Arbeitskulturen bei Radio und Fernsehen, wie wir das aktuell in der Deutschschweiz erleben?
Ich war zwölf Jahre beim Fernsehen RTS in Genf und anschliessend acht Jahre beim RTS-Kultursender in Lausanne. Ich kenne also die Geschichten Bern–Zürich oder Basel–Zürich in der Version Genf–Lausanne seit 20 Jahren.
Dazu muss man sagen: Klischees sind gleichzeitig falsch und wahr. Ja, Radio ist schneller und direkter – Fernsehen schwerfälliger, teurer und mächtiger . Trotzdem wurde das Radio nicht einfach vom Fernsehen überrollt. Beim Konvergenzprozess bemühte man sich bei RTS auf Direktionsebene um ein Gleichgewicht zwischen TV und Radio, vielmehr als um eine ausgewogene Vertretung von Männern und Frauen. (lacht)

Paradoxerweise hat die No-Billag-Initiative dazu geführt, dass wir uns zusammengerauft haben. Aktuell steht nicht mehr die Fusion von Fernsehen, ­Radio und Online im Zentrum. Vielmehr fragen wir uns, wie wir alle schlanker produzieren und unsere Inhalte künftig über neue Kanäle verbreiten können.

Die ersten drei Jahre Konvergenz waren schwierig. Wir suchten nach einem gemeinsamen Auftritt, gleichzeitig sollte jeder seine Identität behalten. Paradoxerweise hat die No-Billag-Initiative dazu geführt, dass wir uns zusammengerauft haben. Aktuell steht nicht mehr die Fusion von Fernsehen, ­Radio und Online im Zentrum. Vielmehr fragen wir uns, wie wir alle schlanker produzieren und unsere Inhalte künftig über neue Kanäle verbreiten können.

Das heisst, Sie wollen ein breiteres Publikum ­ansprechen?
Wir müssen unsere Inhalte so präsentieren, dass wir auch ein Publikum erreichen, das uns auf den tradi­t­ionellen Medien weder hört noch schaut. Damit meine ich nicht nur die 15–25-Jährigen, für die wir gar nicht existieren. Auch die 25–50-Jährigen holen sich aud­io-visuelle Produkte nach Lust, Interesse und Bedürfnis auf ihr Smartphone und ihren Computer. Wir wissen zwar, wie man Sendungen macht und was unserem Publikum gefällt. Wie man aber jene erreicht, die nicht mehr vor dem Fernseher oder Radio sitzen, ist eine andere Frage.

Was unternehmen Sie konkret?
Wir haben im Bereich Gesellschaft und Kultur momentan vier Baustellen: Erstens planen wir eine grosse Reform unseres Kulturangebots. Eine Studie hat gezeigt, dass wir die Erwartungen unseres Publikums nicht mehr erfüllen: Wir müssen der kulturellen Aktualität in der Romandie einen höheren Stellenwert einräumen. Zweitens haben wir die Unterhaltung komplett reorganisiert und eine Abteilung «Junges Publikum, Humor und Musik» geschaffen. Diese umfasst ein breites Spektrum verschiedener TV-, Radio-, Internet- und Digitalangebote, was uns erlaubt, neue Fragestellungen zu untersuchen: Ergibt ein Radiokanal für 15–20-Jährige noch Sinn? Falls ja: Mit welcher Musik? Zieht Humor bei den Jugendlichen? Kann man Spotify konkurrenzieren?

Ergibt ein Radiokanal für 15–20-Jährige noch Sinn? Falls ja: Mit welcher Musik? Zieht Humor bei den Jugendlichen? Kann man Spotify konkurrenzieren?

Baustelle Nummer 3 hängt mit Gilles Marchands Forderung nach mehr Eigenproduktionen im Bereich Fiktion zusammen, wofür auf nationaler Ebene 15 Millionen Franken investiert werden. Für uns heisst das: neue Drehbücher entwickeln und Freischaffende dazu ermutigen, Spielfilme zu kreieren, die ein junges Publikum erreichen.
Schliesslich müssen wir viertens auch über eine neue Audiostrategie nachdenken. Das Radiopublikum wird älter, die Hörerzahlen gehen zurück. Aktuell erzielen Podcasts vor allem im englischen Sprachraum riesige Erfolge. Bei RTS entwickeln wir eine eigene Podcast-Strategie. Mit den ersten Serien, die wir 2018 produziert haben, erreichten wir bereits über 120'000 Downloads.

Das klingt nach einer spannenden Zeit des Umbruchs ...
Spannend ja, aber eine höllische Herausforderung! Wir machen das alles, während wir gleichzeitig sparen müssen und das Bestehende weiterläuft. Aber die Leute sind motiviert: Als wir einen Projektwettbewerb für Podcasts ausgeschrieben haben, erwarteten wir etwa zehn Vorschläge – und erhielten über 40!

Auf RTS gibt es verschiedene freche neue Produkte – man bekommt den Eindruck, hier wird Neues ausprobiert – wie etwa die Internetserie «Alerte Bleu» oder das Jugendprogramm «Tataki» . Sind RTS-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter ­besonders innovativ?
Das müssen andere beurteilen. Vielleicht sind wir agiler als SRF, weil wir kleiner sind. Das ist nicht unser Verdienst, wir haben keine Wahl. Vielleicht spielt auch das lateinische Temperament eine Rolle? Was natürlich wieder ein Klischee ist. Aber es stimmt: Wir verfügen über eine gewisse Geschmeidigkeit. Wir können schnell reagieren und wir können echt kreativ sein.

Jugendprogramm «Tataki»

Grosse Erfolge erntet RTS seit einiger Zeit mit ­seinen Satiresendungen. Allen voran die Produk­t­ionen von Vincent Kucholl und Vincent Veillon, die von SRF 2 übernommen und mit deutschen Untertiteln ausgestrahlt werden.
Ja – wie haben Glück mit den beiden Vincents! So etwas kann man nicht erfinden – plötzlich ist es da, und dann läuft es! Angefangen haben die beiden bei Couleur 3, dann feierten sie grosse Erfolge mit der wöchentlichen Satiresendung «26 minutes» und jetzt produzieren sie für uns einmal im Monat «120 minutes» . Um sie herum hat sich eine ganze Generation junger Comedians etabliert, wie etwa Thomas Wiesel, Blaise Bersinger oder Yann Marguet. Sie sind auf der Bühne, in den sozialen Netzwerken und im Radio sehr präsent und populär. Ihnen ist zwar das Fernsehen ziemlich egal, aber ihr Universum und das unsrige befruchten sich gegenseitig.

Was würden Sie – nebst den aktuellen Erfolgen bei der Politsatire – als weitere Spezialitäten oder Stärken von RTS herausstreichen?
Was wir gut können, sind Reportagen, Dokfilme und Dokuserien wie zum Beispiel «Bye Bye la Suisse» oder « A l’école hôtelière ». Sehr stolz bin ich auf die Sendung «Caravane FM», die wir vor zwei Jahren lanciert haben. Wir liessen uns dafür von einem belgischen Vorbild inspirieren und haben es auf Schweizer Verhältnisse adaptiert: Zwei Schauspieler fahren mit einem Wohnwagen in Spitäler, Schulen und andere Institutionen und geben den Leuten dort 48 Stunden Zeit und Raum, aus ihrem Leben zu erzählen. Ein ganz einfaches Konzept, das aber mitten ins Herz zielt.

Aus Belgien stammt auch die Idee für die RTS-Eigenproduktion «Double vie» – eine sechsteilige Serie um ein Beziehungsdrama. Ist das ein Zufall oder holen Sie sich regelmässig Inspirationen beim belgischen öffentlich-rechtlichen Radio und Fernsehen RTBF ?
RTBF ist etwas grösser als wir, aber es funktioniert ziemlich ähnlich. Belgien ist ein zweisprachiges Land und es herrscht auch ständig der Wettkampf, wer reicher oder mächtiger ist. Die Belgier sind uns näher als das grosse Frankreich und wir haben mit ihnen eine sehr konstruktive Zusammenarbeit. Meine Kollegin hat die Serie «Double vie» in Belgien entdeckt und wollte sie gleich für die Schweiz adaptieren. Wir fanden eine Lücke im Kalender – und haben es gemacht.

Wie steht es um die Kontakte in der Schweiz, über die Sprachgrenzen hinweg? Sucht man da nach vermehrter Zusammenarbeit – oder ist es umgekehrt wichtig, die eigene Identität zu pflegen?
Es braucht beides! Man sollte aber nur dort zusammenarbeiten, wo es sinnvoll ist. Dafür müssen wir uns besser kennen. In den letzten fünf bis sechs Jahren gab es grosse Fortschritte in diese Richtung: Wir treffen uns regelmässig mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Deutschschweiz, dem Tessin und Graubünden. Das Schlimmste ist, sich gegenseitig zu ignorieren. Zusammenarbeit ist sinnvoll, wenn es inhaltlich angezeigt ist. So gibt es eine Reihe von Magazinen, die regelmässig Beiträge untereinander austauschen. Ein tolles Beispiel für eine gute Zusammenarbeit war der Dokfilm «Russi und Collombin – Das Duell»: Die beiden grössten Schweizer Skifahrer – einer aus der Deutschschweiz, der andere aus der Romandie. Was hingegen nicht funktioniert, sind von einer zentralen Redaktion gesteuerte gesamtschweizerische Produktionen.

Zur Person
Philippa de Roten leitet seit Juli 2016 bei RTS die TV-, Radio- und Internetproduktionen im Bereich Gesellschaft und Kultur. «Meine Abteilung deckt alles ab, was nicht Aktualität und nicht Sport ist», ­umschreibt sie ihren Job ­lachend. Die 50-jährige ­Walliserin ist in Sion auf­gewachsen und hat in Genf Politikwissenschaften ­studiert. Ihre ersten Er­fahrungen im Journalismus sammelte sie bei einem ­Lokalradio, anschliessend arbeitete sie bei verschiedenen Westschweizer ­Zeitungen. 1997 wechselte de Roten zur SRG, wo sie beim Fernsehen RTS u.a. die Kultursendung ­«Cadences» und das «Téléjournal» moderierte. 2009 wechselte die Kulturjournalistin zu Radio Espace2, ab 2011 war sie stellvertretende Chefin der Kulturredaktion von RTS.

Text: Gabriela Neuhaus

Bild: RTS/Laurent Bleuze

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