«Tagesschau»-Beitrag «Eher Nein zur Zersiedlungsinitiative» beanstandet

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Mit Ihren E-Mails vom 5. Februar und 10. Februar 2019 beanstandeten Sie die «Tagesschau» (Fernsehen SRF) vom 30. Januar 2019 und dort den Beitrag «Eher Nein zur Zersiedelungsinitiative».[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann folglich darauf eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

«Ich bin sicher, sie kennen die Erklärung:
Fakten:
Jeweils vor Abstimmungen hat sich in den letzten Jahren ein ‘Brauch’ etabliert.
Das Institut gfs in Bern darf eine 1. Umfrage machen
Das Institut gfs darf eine 2. Umfrage machen
Die Tagesschau verkündet an 1. Stelle das Resultat und die Veränderung, oft noch kommentiert von einem ‘Wissenschafter’ von gfs.
-->> Das alles im Auftrag der SRG SSR steht auf der Internetseite von gfs.bern
die Tagesschau sagt das auch jedesmal.
Fragen:
1. Ich brauche diese Umfragen nicht, ich habe das Abstimmungskuvert und ich habe längstens schon abgestimmt.
2. Darum sind die 2 Umfragen Geldverschwendung, aus meiner Sicht
3. Der Trend, der sich aus 1. und 2. Umfrage ergibt, ist eine Sache, die andere Sache ist es, dass es nicht die Aufgabe der SRG ist, jedesmal das Abstimmungsresultat zum Voraus zu prognostizieren damit die Volksmeinung zu manipulieren. Aktuelles Beispiel: Zersiedelungsinitiative
4. Diese jeweils 2 Umfragen sind ersatzlos zu streichen, weil: wo ist den der Nutzen für Wen? DieTagesschau hat einen Nutzen? Die SRG hat einen Nutzen??
Selbstverständlich darf dann das Institut gfs in Bern das Resultat im Nachhinein interpretieren, die zugehörigen Kosten muss aber gfs selber bezahlen!
Ich danke ihnen jetzt schon herzlich für Ihre Antworten.»

Und am 10. Februar 2019 sandten Sie mir folgende Ergänzung zu:

«Es ist wieder einmal geschafft!
Die Tagesschau und das Institut gfs haben einmal mehr eine Zustimmung zur Initiative
umgekehrt in eine Ablehnung der Initiative und schon 14:14 Uhr freuen sich SRG-Tagesschau zusammen mit gfs über den Erfolg, Mitteilung im Teletext 14:14 Uhr.»

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die «Tagesschau» äußerte sich Herr Franz Lustenberger, ehemaliger stellvertretender Redaktionsleiter der Sendung:

«Mit Mail vom 30. Januar 2019 und Ergänzung vom 10. Februar hat Herr X eine Beanstandung gegen die Abstimmungsumfrage in der Tagesschau vom 30. Januar und eine Teletextmeldung am Abstimmungssonntag vom 10. Februar (vom Beanstander beigelegt) eingereicht.

Grundsätzliches zu Umfragen

Meinungsumfragen sind Teil des politischen Geschehens in einer Demokratie. Erfragt werden konkrete Wahl- oder Stimmabsichten, erfragt werden Sorgen und Präferenzen, erfragt werden Einstellungen (Zustimmung/Ablehnung) zu bestimmten Sachthemen. Alle diese Umfragen ergeben jeweils ein Meinungsbild in der Bevölkerung, das für die Behörden und die politischen Akteure (Parteien, Komitees, Interessengruppen) von Nutzen ist.

In der Schweiz werden im Vergleich mit anderen Staaten eher wenige politische Umfragen durchgeführt und veröffentlicht. Als Beispiel sei die Bundesrepublik Deutschland erwähnt, wo beinahe wöchentlich mehrere Umfragen mit der sogenannten Sonntagsfrage (Wen würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?) publiziert werden.[2]

Dies hängt sicher mit den direktdemokratischen Möglichkeiten in der Schweiz zusammen. Aber auch die hohen Kosten für eine seriöse Umfrage mit der notwendigen wissenschaftlichen Begleitung (im konkreten Fall wurden 4'699 Personen befragt) spielen eine Rolle.

Die Unternehmung SRG SSR als grosses Medienhaus der Schweiz hat seit langem eine Tradition mit Umfragen zu Abstimmungsvorlagen, auch dank der langfristigen Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut Gfs Bern.

In der Schweiz beginnen Abstimmungskämpfe immer früher; oft schon mehrere Monate vor dem eigentlichen Abstimmungstermin. Daher macht eine eher frühe Umfrage Sinn; allerdings darf die Umfrage auch nicht allzu früh gemacht werden, da sonst das Risiko besteht, dass die Meinungsbildung noch nicht sehr weit fortgeschritten ist und die Umfrage dann an Wert verliert. Eine zweite Umfrage kurz vor dem Abstimmungstermin macht Sinn, um die Entwicklung der Meinungsbildung und die Bedeutung der Hauptargumente darstellen zu können.

Fragen und Ergänzung des Beanstanders

Der persönliche Nutzen (<ich brauche diese Umfrage nicht, habe schon abgestimmt>) kann nicht entscheidend sein für den publizistischen Beschluss der Chefredaktoren-Konferenz, bei eidgenössischen Abstimmungen jeweils eine Umfrage in zwei Wellen durchzuführen.

Die Umfragen, und damit der Inhalt des publizistischen Angebotes fallen in die Programmautonomie der Veranstalter gemäss Verfassung und Gesetz. Die publizistisch verantwortlichen Chefredaktoren und die Direktion von SRG SSR ziehen in ihre Überlegungen immer auch finanzielle Aspekte mit ein. Auch der Verwaltungsrat der SRG SSR hat sich mit dem Thema befasst. Den Vorwurf der Geldverschwendung lehnt SRF ab.

Die Tagesschau spricht bei der Präsentation der Umfrageergebnisse von einem Trend in Richtung Nein. Die Tagesschau hat den Abstimmungsausgang nicht prognostiziert. Lukas Golder, Co-Leiter Gfs Bern, analysiert im Beitrag die Entwicklung der Umfrage von der ersten zur zweiten Welle. Er verweist darauf, dass die Entwicklung der Stimmabsichten ähnlich verlaufe wie bei früheren Volksinitiativen von linker und grüner Seite. Er verweist auf die Bedeutung des revidierten Raumplanungsgesetzes in der Debatte um die Initiative. In der Grafik werden die Hauptargumente beider Seiten dargestellt.

Zur Ergänzung vom 10. Februar: Die SRG SSR weist den Vorwurf zurück, dass sie mit ihren Umfragen das Abstimmungsergebnis ‘umgekehrt’ hätte. Die direkte Demokratie ist in der Schweiz zu stark verwurzelt, als dass sich durch zwei Umfragen Abstimmungsergebnisse beeinflussen oder gar manipulieren liessen. Die Stimmübergerinnen und Stimmbürger informieren sich durch verschiedenste Quellen (Kontroverse Sendungen in Radio und Fernsehen sowie Artikel in Zeitungen und Onlinemedien, Informationsschrift des Bundes, Empfehlungen der Parteien, Diskussionen im Familien- und Freundeskreis, Werbeaktionen/Plakate/Flyer von Komitees, etc.)

Die vom Beanstander beigelegte Teletextseite ist absolut sachlich formuliert. Von ‘Freude’ bei den Programmschaffenden oder bei Gfs kann keine Rede sein.

Fazit

Die SRG SSR veröffentlicht auf ihren Kanälen im Vorfeld von Eidgenössischen Abstimmungen zweimal die Ergebnisse von repräsentativen Umfragen. Daraus lässt sich die Entwicklung der Meinungsbildung in der Bevölkerung ableiten. Alle Beiträge sind entsprechend eingebettet; die Stimmbevölkerung wird nicht manipuliert. Die Darstellung ist sachlich zurückhaltend.

Ich bitte Sie, die Beanstandung in diesem Sinne zu beantworten.»

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Ich kann Ihre Skepsis gut verstehen: Es gäbe gute Gründe zu argumentieren, dass in der direkten Demokratie politische Meinungsumfragen nicht nötig seien, da ja das Volk seine Meinung an der Urne äußere und die Behörden dadurch genügend Fingerzeige haben, wie das Volk denkt, ganz im Unterschied zu einer repräsentativen Demokratie, in der nur alle zwei Jahre (USA) oder alle vier Jahre (Deutschland,) oder sogar nur alle fünf Jahre (Frankreich, Großbritannien, Italien, Österreich) gewählt wird. Es gibt prominente Gegner von Meinungsumfragen, beispielsweise der frühere Vizekanzler Oswald Sigg. Und es gäbe auch gute Gründe zu argumentieren, dass die SRG andere Aufgaben hätte als die Finanzierung von Meinungsumfragen. Doch hat sich auch in der direkten Demokratie die Meinungsforschung als nützliches Instrument der Politikgestaltung erwiesen. Gibt es keine Meinungsforschung und verwirft das Volk eine Vorlage, so haben Bundesrat und Parlament oft keine Ahnung, warum das passiert ist. Sie müssen dann den Scherbenhaufen aufwischen und eine andere Vorlage erarbeiten, ohne genau zu wissen, in welche Richtung sie gehen müssen. Hier liefern die vorgängigen «Abstimmungs-Barometer» sowie die nachträgliche «Vox-Analyse» wertvolle Hinweise, weil in den Umfragen immer auch nach den Unterstützungs- und Ablehnungsgründen gefragt wird. Insofern kann man Meinungsforschung als «Service public» bezeichnen, und da hat es eine gewisse Logik, wenn sich just die größte Service-Public-Unternehmung im Medienbereich, die SRG, darum kümmert.

Meinungsumfragen haben nur einen sehr geringen Einfluss auf das Abstimmverhalten. Die wissenschaftliche Forschung zeigt, dass sich der «Bandwagon-Effekt» – man will bei den mutmasslichen Siegern sein – und der «Underdog-Effekt» – man unterstützt aus Mitleid über die drohende Niederlage die mutmasslichen Verlierer – sozusagen gegenseitig aufheben, bei einem ganz minimen Vorteil für den «Bandwagon-Effekt».[3] Abstimmungen und Wahlen werden jedenfalls nicht durch Umfragen entschieden, und so beeindruckend die Theorie der Schweigespirale von Elisabeth Noelle-Neumann ist[4]: Empirische Überprüfungen haben ergeben, dass sich die Menschen, die sich mit ihrer Position im Nachteil wähnen und bei der Abstimmung oder Wahl zu unterliegen drohen, keineswegs in Schweigen hüllen, sondern heftig weiter reden und argumentieren, sowohl interpersonal im Freundes- und Bekanntenkreis, als auch medial in den Social Media. Ihre Annahme, dass die Zersiedelungsinitiative wegen der Umfragen gescheitert ist und dass sich SRF und GfS quasi als Sieger gesehen hätten, ist daher abwegig und falsch.

Der Beitrag in der «Tagesschau» zur zweiten Umfrage vor der Abstimmung über die Zersiedelungsinitiative war absolut sachlich und neutral. GfS-Co-Direktor Lukas Golder, übrigens ein studierter Politologe, analysierte die Zahlen völlig wertfrei. Und die Teletext-Meldung vom Abstimmungssonntag ist ebenfalls bar jeder Tendenz und jedes Triumphgeheuls. Es gibt daher für mich keinen Grund, Ihre Beanstandung zu unterstützen.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüssen,
Roger Blum, Ombudsmann

[1] https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/eher-nein-zur-zersiedelungsinitiative?id=a97af62e-0bae-4f2d-91e6-612285c80123

[2] http://www.wahlrecht.de/umfragen/index.htm

[3] http://www.bpb.de/apuz/192958/zur-wahrnehmung-und-wirkung-von-meinungsumfragen?p=all ; http://lspwpp.sowi.uni-mannheim.de/team/wissenschaftliche_mitarbeiter/Alex%20Wuttke/Wuttke%20Umfrageeffekte%20DVPW.pdf ; http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/handwoerterbuch-politisches-system/202068/meinungsforschung ;

[4] http://noelle-neumann.de/wissenschaftliches-werk/schweigespirale/

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