Beitrag «Bekenntnis zu Europa» von «Tagesschau» beanstandet

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Mit Ihrer E-Mail vom 5. März 2019 beanstandeten Sie die Sendung «Tagesschau» (Fernsehen SRF) vom 2. März 2019 und dort den Beitrag über das Rahmenabkommen Schweiz-EU.[1]Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann daher darauf eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandungwie folgt:

«Im ersten (etwas lange geratenen) Beitrag der oben erwähnten Tagesschau über die Delegiertenversammlung der SP unter dem Tagesschau-Titel <Bekenntnis zu Europa> wurde nicht nur im Titel (im Vorspann) sondern auch im Beitrag (Cornelia Boesch: ...Europafreundliche Delegierten..., <proeuropäische Parlamentarier> im Kommentar ca. 2.03 Minuten, ...SP habe immer gesagt <ja zu Europa> vom Kommentator. Wenn Parlamentarier in den Interviews ungenau sind ist das akzeptierbar, aber ein SRF-Kommentator darf nicht in diesem Sprachgebrauch verfallen, denn Europa besteht aus ca. 50 Ländern, die EU jedoch nur aus deren 28. Das heisst dass die Vermischung von Europa (welches bis zum Ural reicht) mit der EU sachlich falsch ist und damit gegen das Sachgerechtigkeitsverbot verstösst. Es sollte bei SRF klargestellt und durchgesetzt werden dass EU und Europa nicht dasselbe sind. Ich bitte Sie deshalb den obigen Fall zu prüfen und mir einen Bericht mit den Ergebnissen ihrer Abklärungen und der Art der Erledigung der Beanstandung zukommen zu lassen. Zu weiteren Auskünften stehe ich Ihnen selbstverständlich jederzeit zur Verfügung und freue mich auf Ihren Bericht.»

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die «Tagesschau» antwortete Herr Franz Lustenberger, ehemaliger stellvertretender Redaktionsleiter der Sendung:

«Mit Mail vom 5. März 2019 hat Herr X eine Beanstandung gegen die Tagesschau vom 2. März eingereicht. Es geht um die Berichterstattung über den Parteitag der SP, welche ihre Position zum Rahmenabkommen mit der EU neu justiert hat (Schlagzeilen und Bericht zu Beginn der Sendung). Der Beanstander kritisiert, dass die Tagesschau in der Sendung vom 3. März EU und Europa vermischt habe.

In der Schlagzeile wie in der Anmoderation wird vom Rahmenabkommen mit der EU gesprochen und nie von einem Abkommen mit Europa. Wenn die Sozialdemokraten als <europafreundlich> bezeichnet werden, so entspricht dies den Fakten; die Partei spricht sich für gute Beziehungen zu ganz Europa, und nicht nur zur EU, aus.

Wenn die Formulierung <Ja zu Europa> gebraucht wurde, so ist dies ein Zitat aus dem SP-Parteitag, der unter dem Motto <Ja zu Europa, Ja zum Lohnschutz> durchgeführt wurde. Dieses Motto ist denn auch im Bild zu sehen. Die Tagesschau kann nicht das Motto eines Parteitages abändern.

Die befragten SP-Parlamentarier sprechen im Beitrag explizit vom <institutionellen Abkommen> (NR Fabio Molina), vom <Bilateralen Weg> (SR Daniel Jositsch), vom <Rahmenvertrag mit der Europäischen Union> (NR Martina Munz).

Die Tagesschau setzt in ihren Beiträgen ein gewisses Vorwissen voraus; sie muss in ihrer journalistischen Arbeit darauf bauen können, dass das Publikum von politischen Prozessen einen minimalen Kenntnisstand hat. Wenn von den Bilateralen Verträgen die Rede ist, dann sind die Verträge mit der EU gemeint; wenn von einem institutionellen Rahmenabkommen die Rede ist, dann sind ebenfalls die Verhandlungen mit der EU gemeint.

Die vom Beanstander geforderte Präzisierung könnte im Extremfall sogar zu falschen Aussagen führen. Ein <Bekenntnis zur EU> wäre als Bekenntnis zu einem Beitritt zu verstehen; darum geht es aber gar nicht. Es geht – wie in Moderation und Beitrag überaus deutlich wird – um den Rahmenvertrag, über den in der Schweizer Politik und in der Bevölkerung seit letztem Sommer intensiv diskutiert wird.

Der Beanstander kritisiert auch die Länge der Berichterstattung. Die veränderte Haltung der SP gegenüber dem institutionellen Abkommen mit der EU rechtfertigt aus Sicht der Redaktion diese Berichterstattung, nachdem bis vor Kurzem im <linken Lager> das Nein ohne Wenn und Aber die Diskussion dominierte. Zweitens kommt es auf die Unterstützung der SP an, ob ein Rahmenvertrag bei einer Volksabstimmung überhaupt eine Chance hat oder nicht. Die Haltung der Parteien ist also für das Zustandekommen oder Nicht-Zustandekommen des Abkommens von entscheidender Bedeutung.

Fazit

Die Tagesschau hat sachgerecht über den Parteitag der SP berichtet. In der Berichterstattung ist konkret vom Rahmenabkommen mit der EU die Rede. Das Publikum wurde nicht falsch informiert oder in die Irre geführt.

Ich bitte Sie, die Beanstandung in diesem Sinne zu beantworten.»

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Grundsätzlich haben Sie Recht: Die Europäische Union (EU)ist nicht Europa schlechthin. Sie spricht zwar oft für Europa, sie ist die wichtigste politische und wirtschaftliche Organisation Europas, aber der Kontinent umfasst nicht bloß diese 28 oder 27 Länder; er ist viel größer. Viel eher repräsentiert der Europarat, dem auch die Schweiz angehört, Gesamteuropa; ihm gehören 47 Länder an, auch Russland, auch die Türkei, und selbst Aserbeidschan außerhalb der geografischen Grenze Europas ist dabei. Einzig Weißrussland als Land auf dem europäischen Kontinent ist nicht Mitglied. Einen europäischen Kern hat auch die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, mit 36 Mitgliedern, darunter auch die Schweiz, aber auch Chile, die USA, Kanada, Israel, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland. Ebenfalls wegen Europa entstanden ist die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, mit 57 Mitgliedern, darunter alle Länder Europas, also auch die Schweiz, weiter die USA und Kanada, alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie die Mongolei. Europäische Klammern sind außerdem die EFTA, die Europäische Wirtschafts-Assoziation, wiederum mit der Schweiz als Mitglied – neben Norwegen, Island und Liechtenstein – sowie der EWR, der Europäische Wirtschaftsraum, bestehend aus den Ländern der EU sowie Norwegen, Island und Liechtenstein, mithin zurzeit 31 Mitgliedern.

Europa ist also nicht nur landschaftlich, sprachlich, nach Mentalitäten, Bräuchen, Religionen, Kulturen, historischen Erfahrungen und politischen Systemen vielfältig, sondern auch organisatorisch. Dennoch hat man in der Schweiz unter «Europapolitik»seit 1945 immer die Positionsbezüge zum Grad der europäischen Einigung verstanden: Alle politischen Initiativen, Diskussionen und Entscheide zur europäischen Integration in der Schweiz waren schweizerische Europapolitikund nicht etwa EU-Politik. EU-Politik ist die Politik der EU.

In dem von Ihnen beanstandeten «Tagesschau»-Beitrag könnte man den Titel «Bekenntnis zu Europa»kritisieren, und mithin die Moderatorin Cornelia Boesch, die diesen Titel zitiert. Aber was ist denn der Schwenker einer Partei, die vor kurzem noch scheinbar geschlossen das Rahmenabkommen der Schweiz mit der EU bekämpfte und die nun doch das Rahmenabkommen und damit das gesamte bilaterale Regelwerk zwischen der Schweiz und der EU retten will, etwas anderes als ein Bekenntnis zu Europa? Eben nicht ein Bekenntnis zur EU, sondern zum spezifischen schweizerischen Weg mit Personenfreizügigkeit, Zusammenarbeit im Polizei- und Asylbereich (Schengen/Dublin), Zusammenarbeit im Land- und Luftverkehr, Teilnahme an europäischen Forschungsprojekten usw. In dieser Logik war es auch nicht falsch, dass in dem «Tagesschau»-Beitrag von «Pro-Europäern» und «pro-europäischen SP-Parlamentariern» die Rede war, denn sie wollen europäische – von der Schweiz und der EU gemeinsam ausgehandelte – Lösungen, nicht EU-Lösungen. Auch das Adjektiv «europafreundlich» war da kein Missgriff. Einzig SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann sprach in seinem Statement von einer «Annäherung an Europa», und das ist eindeutig falsch. Aber diesen Fehler kann man nicht der «Tagesschau» anlasten. Richtig wäre gewesen, er hätte an dieser Stelle von einer «Annäherung an die EU» gesprochen.

Nochmals, in aller Klarheit: Wenn die Kommission von Jean-Claude Juncker in Brüssel Entscheide fällt, dann sind es nicht Entscheide der Europa-Kommission, sondern der EU-Kommission. Und auch wenn das gemeinsame Parlament «Europäisches Parlament» und die Runde der Premierminister «Europäischer Rat» heißen, so handelt es sich faktisch um das EU-Parlament und um die EU-Regierungschefs. Wenn die EU spricht, dann spricht nicht Europa, sondern eben die EU. Wenn sich aber in der Schweiz der Bundesrat, das Parlament, die Parteien oder die Sozialpartner mit ihrem Verhältnis zu den europäischen Institutionen befassen, dann betreiben sie Europapolitik und nicht EU-Politik. Aus diesem Grund kann ich Ihre Beanstandung nicht unterstützen.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

Roger Blum, Ombudsmann

[1]https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/tagesschau-vom-02-03-2019-1930?id=40b9ba06-9ddd-4c7d-8e0f-349f10d7a262

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