Wikipedia Weltbild

Was haben ETH-Professorin Nina Buchmann, Top-Managerin Jeannine Pilloud und Ruth Keller, Sportlerin des Jahres 1980, gemeinsam? Abgesehen davon, dass sie alle viel geleistet haben, sucht man sie vergebens auf Wikipedia.

Weniger als ein Fünftel aller Biografien in der Wikipedia sind über Frauen. Dieses Ungleichgewicht suggeriert, dass es vor allem die Lebenswerke der Männer sind, die genügend Relevanz aufweisen, um zum Universalwissen zu zählen. Das kann man für unbedeutend halten und als logische Folge der männlich geprägten Geschichtsschreibung deuten. Denn schliesslich schienen lange die Errungenschaften irgendwelcher Feldherren gewichtiger als das, was Frauen abseits der Schlachtfelder leisteten. Das wurde auch entsprechend für die Nachwelt festgehalten. Doch so einfach ist es nicht, wie Muriel Staub, Vorstandsmitglied von Wikimedia CH erzählt: «Die aktuellsten Zahlen, die mir in Bezug auf die deutschsprachige Wikipedia bekannt sind, stammen aus einer Untersuchung von ‹Der Spiegel› im letzten Jahr. Diese kommt zum Schluss, dass von den mehr als 330 000 Artikeln über Personen der vergangenen 100 Geburtsjahre nur 20,3 Prozent von Frauen handeln.» Zudem seien die Artikel häufiger von Männern als von Frauen verfasst.

Wikipedia ist heute eine gewichtige Grösse. Die Seite wird unter allen Websites weltweit am vierthäufigsten aufgerufen. Sie hat sich zu einer Enzyklopädie entwickelt, die dieser Definition wohl näher kommt, als es jeder Brockhaus je konnte: Damit ein Nachschlagewerk einer Enzyklopädie würdig ist, muss es gemäss Duden «den gesamten Wissensstoff aller Disziplinen in systematischer Anordnung darstellen». Auch wenn Wikipedia für alle als Autorinnen und Autoren frei zugänglich ist, ist «der gesamte Wissensstoff» wohl noch immer nicht erfasst, aber sicher breiter gefächert als zu Grossmutters Zeiten.

Wichtiges Instrument der journalistischen Arbeit

Die digitale Enzyklopädie ist ein integraler Bestandteil der journalistischen Arbeit geworden, wie Patrizia Laeri, Wirtschaftsjournalistin bei SRF, erklärt: «Wikipedia ist ein Hilfsmittel, das ich nicht mehr missen will. Wenn ich beispielsweise über für mich fremde Fachgebiete wie die Chemieindustrie berichte, finde ich einen unglaublichen und übersichtlichen Wissensschatz, den ich in kürzester Zeit nutzen kann. Aber auch für die Vorbereitung von Interviews sind die Wiki-Biografien eine schnelle und hilfreiche Unterstützung.» Natürlich verlassen sich Journalistinnen und Journalisten bei ihrer Arbeit nicht nur auf Wikipedia. Dennoch ist die Website oft Ausgangspunkt einer Recherche und stellt damit schon mal Weichen.

Teufelskreis

Ein zentrales Kriterium für die Relevanz einer Person für Wikipedia ist ihre Nennung in vertrauenswürdigen Quellen – auf anderen Websites, in journalistischen Arbeiten oder in weiterführender Literatur. Die tägliche Medienarbeit steht also in einem kausalen Zusammenhang zur inhaltlichen Zusammensetzung von Wikipedia.

Muriel Staub bestätigt, dass «die Berichterstattung in den Medien ausschlaggebend ist, denn nicht über alle Personen kann in der Wikipedia ein Artikel angelegt werden. Zuerst sollte geprüft werden, ob gewisse Kriterien erfüllt sind. Wenn über eine Person wiederkehrend und überregional in den Medien berichtet wird, ist es sicherlich einfacher, zu argumentieren, dass die Person für die Wikipedia relevant ist.»

So war das auch bei Donna Strickland. Die kanadische Laserphysikerin wurde 2018 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Vor der Bekanntgabe der Preisgewinnerin sollen Autoren aus der Community einen Eintrag über Strickland mit dem Argument verweigert haben, dass es bis zu dem Zeitpunkt nicht genug Berichterstattung in vertrauenswürdigen Quellen gab. 90 Minuten nach der Nobelpreis-Bekanntgabe wurde dann ein Artikel in Wikipedia angelegt.

Männer über Männer

Patrizia Laeri ist sich bewusst, dass die Medien ihren Beitrag zur männlichen Färbung von Wikipedia leisten: «Die Medien berichten zu 80 Prozent über Männer – vor allem im Ressort Wirtschaft und Sport. Wer es aber nicht in die Medien schafft, der schafft es auch nicht auf Wikipedia. Praktisch jeder Satz auf der Plattform muss mit Links belegt werden. Da Frauen in den Medien weniger präsent sind, erscheinen sie auch weniger oft auf Wikipedia. Ein Teufelskreis.»

Wir sehen die Welt nicht so, wie sie ist. Sie ist so, wie wir sie sehen. Unsere Prägungen, Überzeugungen, Vorurteile, Gefühle und Ansichten kneten unser Weltbild immer wieder neu. Und Wikipedia hilft da fleissig mit. Um den von Patrizia Laeri beschriebenen Teufelskreis zu durchbrechen, braucht es neben bewusster Arbeit auf Seiten der Medienschaffenden vor allem auch mehr Einträge bei Wikipedia über Frauen.

Steter Tropfen ...

Auch Patrizia Laeri setzt sich mit Griffel, Post-it und Laptop aktiv dafür ein, dass sich das Geschlechterverhältnis bei Wikipedia verbessert. «Durch das Ungleichgewicht bei Wikipedia werden alte Rollenbilder in neue digitale Welten übertragen. Viele Menschen wissen gar nichts von diesem grotesken Ungleichgewicht der Geschlechter auf Wikipedia. Vielen ist auch unbekannt, dass alle die Wissensplattform mitgestalten dürfen. Wir wollen darauf aufmerksam machen und auffordern, aktiv zu werden, die digitale Geschichte femininer zu schreiben. Leider schrecken teilweise aggressive Löschdiskussionen oder elitäre Kommentare viele Frauen ab. Da braucht es ein bisschen Mut und viel Durchhaltewillen. Aber erst steter Tropfen höhlt den Stein.»

So entsteht ein Beitrag bei Wikipedia

Damit es ein Beitrag in die digitale Enzyklopädie schafft, müssen Autorinnen und Autoren Folgendes beachten:

  • Ist die Person für Wikipedia relevant? Generell beschreibt Wikipedia, dass ­‹Personen, Ereignisse oder Themen dann relevant sind, wenn sie neben aktuell ­breiter Öffentlichkeitswirkung nach sinnvollem Ermessen auch zeitüberdauernd von Bedeutung sein werden›.
  • Aussagen müssen belegt werden. Das kann durch Links, Fussnoten, Quellenangaben und Literaturhinweise geschehen.
  • Wichtige Angaben gehören in den Lead. Ist jemand z. B. Bundesparlamentarier/in, ist die Relevanz bereits gegeben. Solche Informationen prominent zu platzieren, hilft, dass der Artikel erhalten bleibt.
  • Gut geschrieben ist halb gewonnen.

Text: Annina Keller

Bild: Wikipedia, colourbox.de (Montage)

Edit-a-thon von SRF, Ringier und Wikimedia CH

Bereits zwei Mal veranstaltete SRF im Rahmen der «Eventreihe kollektive Intelligenz» zusammen mit Ringier und Wikimedia CH einen Edit-a-thon mit dem Ziel, mehr Frauenbiografien auf Wikipedia zu bringen und mehr Frauen zum Mitschreiben zu bewegen. Um mit Geschichten die Welt zu verändern, treffen sich Journalistinnen und Journalisten und arbeiten einen Abend lang gemeinsam an Frauenbiografien für Wikipedia. Sie unterstützen sich gegenseitig, Ideen werden ausgetauscht und Tricks verraten.
Dabei wird das gemeinsame Wissen der Medienschaffenden genutzt, um das Wikipedia-Weltbild weiblicher zu machen. Es entstehen Biografien von Frauen – ob sie heute leben oder historische Persönlichkeiten sind, spielt dabei keine Rolle. Es geht darum, das Wirken und die Errungenschaften von Frauen auf Wikipedia angemessen abzubilden. Am 7. November 2019 findet der nächste Edit-a-thon statt: www.editathon.ch

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