SRF Podcast «52 Beste Bücher Kompakt: Mit Sibylle Berg» beanstandet

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Mit Ihrer E-Mail vom 21. Juni 2019 beanstandeten Sie den Podcast (Radio SRF) «52 Beste Bücher Kompakt» mit Sibylle Berg vom 16. Juni 2019.[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann daher darauf eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

«Ein Buchausschnitt über die Männer der Welt, wie sie die Buchautorin Sibylle Berg in einer englischen Stadt in ferner Zukunft beschreibt, wird vorgelesen. Dieser Text wird gleich im Anschluss ans Vorlesen von der Interviewerin sehr zaghaft in Frage gestellt. Ihr Kommentar: <Es verleidet einem die Männer fast ein bischen>. Sibylle Berg erläutert und rechtfertigt ihre Wortwahl. Fazit: <Es ist wie's ist>, spricht Sibylle Berg. Für mich als Mann ist dieser Text eine Beleidigung. Dieser Text ist, unabhängig davon, wie er sich rechtfertigen lässt, übelster Sexismus. Er sollte so nicht vorgelesen werden. Es hätte wohl sein Inhalt sinngemäss referiert werden können. So aber, in dieser wörtlich wiedergegebenen Weise, stellt er eine persönliche Beleidigung meines Geschlechts und meiner Person dar.»

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Die Antwort kam von Frau Esther Schneider, der Redaktionsleiterin Literatur in der Abteilung Kultur von SRF:

«Gerne nehme ich wie folgt Stellung zur Beanstandung einer Meldung über die Sendung 52 Beste Bücher mit der Autorin Sybille Berg vom 16. Juni 2019 auf SRF2 Kultur. Bei der Sendung handelt es sich um eine Literatursendung. Wir besprechen in ‘52 Beste Bücher’ Neuerscheinungen der Saison. Das Konzept der Sendung lautet: Ein/e Autor/in, ein Buch, eine Stunde. Es ist eine Sendung, die sich vertieft mit einem Buch beschäftigt und mit dem Autor, der Au­torin darüber spricht. Die Auswahl fällt auf Romane, die gesellschaftlich relevante Themen anspre­chen, die herausfordernd, berührend, aber auch provokativ sein können. Dazu gehören auch Bücher von Autorinnen und Autoren, die kontrovers diskutiert werden.

Ein besonderes Augenmerk gilt (gemäss SRG Konzession) der Schweizer Literatur. Sybille Berg ist eine deutsch-schweizerische Autorin, die in ihren Romanen, Kolumnen und Theaterstücken gnaden­los auf unsere Welt blickt. Sie provoziert auch gerne. Und das hat sie mit dem Roman ‘GRM Brain­fuck’ auch wieder getan.

Der Beanstander führt verschiedene Gründe für seine Beanstandung an, die ich wie folgt beantwor­ten möchte:

Erstens

Der Beanstander schreibt: <Dieser Text ist, unabhängig davon, wie er sich rechtferti­gen lässt, übelster Sexismus>

Im Roman ‘GRM’ kommt ein Teil die Männer tatsächlich sehr schlecht weg. Es sind Böse­wichte, Vergewaltiger, sie sind korrupt und dekadent. Der Beanstander hört Zynismus, Pole­mik und Sexismus. Die Autorin und bekennende Feministin Sybille Berg ist bekannt dafür, dass sie in ihren Romanen zuspitzt. Das tut sie hier nicht nur bei den Männern, sondern auch in Bezug auf den Staat und die Gesellschaft ganz allgemein. ‘GRM’ ist eine Dystopie, ein rabenschwarzer Zukunftsroman. Darin beschreibt die Autorin eine Welt, wie sie in naher Zukunft aussehen könnte. Die Geschichte spielt in England, in einer Überwachungsdiktatur. Es ist eine gewalttätige Welt. Die Mehrheit der Menschen hat keinen Job, lebt im Elend. Kinder werden vernachlässigt und missbraucht, Frauen vergewaltigt. Über viele Seiten hinweg wird eine total unmenschliche Welt beschrieben. Eine kleine Elite regiert die Welt. Diese Elite wird in Sybille Bergs Roman verkörpert durch korrupte, ältere Männer. Sie werden ins Gro­teske überzeichnet. Der Roman verstört, rüttelt auf und provoziert. Bei ‘GRM Brainfuck’, das soll hier betont werden, handelt es sich um Fiktion, also um ein Kunstwerk. Darüber zu berichten und daraus zu zitieren sollte legitim sein.

Zweitens:

Der Beanstander stösst sich daran, dass krasse Beschreibungen der ‘bösen’ Männer in der Sendung zitiert werden. <Es hätte wohl sein Inhalt sinngemäss referiert werden kön­nen. So aber, in dieser wörtliche wiedergegebenen Weise>.

Im Roman stellt die Autorin alle handelnden Figuren in kurzen Stichworten, die wie ein Com­puter-Datensatz daherkommen, vor. Das tut sie auch mit den ‘bösen’ Männern. Die Ge­sprächs­leiterin wollte mit der Autorin über das extreme Männerbild diskutieren. Nun gehört es zum Konzept der Sendung, Themen, die mit den AutorInnen diskutieret werden, in kurzen Zitaten einzuführen. Das wurde in der beanstandeten Sendung auch so gemacht. Man könnte das natürlich auch in Worten umschrieben, wie es der Beanstander verlangt. Das macht in einer Literatursendung, in der es unter anderem auch um die Sprache geht, keinen Sinn. Gerade in Sybille Bergs Roman spielt die Tonalität, diese entmenschlichte, computerar­tige Sprache eine wichtige Rolle. In einer Literatursendung muss es möglich sein, aus einem Roman wortwörtlich zu zitieren, auch wenn es krasse Stellen sind.

Zur Illustration das Zitat:

Zitate: gelesen von Isabelle Paris

Thome
Intelligenz: durchschnittlich
Aggressionspotenzial: hoch
Ethnie: rosa
Sexuelle Orientierung: asexuell oder vielleicht homosexuell
Fetisch: Turnschuhschnüffeln
Politische Einordenbarkeit: rechtskonservativ. Aber auch ein wenig egal.

Gesundheitsrisiken: Bluthochdruck. Fettleber

Thomes Vater
Sexualität: SM-Fetisch, dauerhafter Viagra-Konsum
Hobbys: sammelt Orden und getragene Slipeinlagen
Rauschgifte: raucht Havanna, Opium
Hobbys: liebt es, seinen Rücken mit einer Kratzhand zu bearbeiten

Gesundheitsrisiken: Blut­hochdruck, beginnende Leberzirrhose

Der Walter
Intelligenz: durchschnittlich
Aggressionspotenzial: hoch
Ethnie: weiß
Hobbys: zu Cross-dressing-Fotos von Nazis onanieren
Kreditwürdigkeit: nicht vorhanden
Verwertbarkeit: ähhm......

Drittens:

Der Beanstander sagt, das Zitieren dieser Textstelle aus dem Buch stelle eine persön­liche Beleidigung seines Geschlechts und seiner Person dar.

Ich kann nachvollziehen, dass sich Leser und Leserinnen wie auch Hörer und Hörerinnen an diesem Zitat stossen können. Aber es war sicher nicht die Absicht, Männer durch dieses Zitat zu beleidigen. Im Gegenteil. Auch der Gesprächsleiterin ist dieses krasse Männerbild beim Lesen aufgefallen. Sie hat die Autorin auch darauf angesprochen. Sie wollte wissen, warum Sybille Berg gewisse Männer so krass überzeichnet. Das Männerbild sollte also in der Diskus­sion hinterfragt werden.

Die Bemerkung der Redaktorin nach den Zitaten: <Sie verleiden einem die Männer fast ein bisschen>, war kein Kommentar, sondern eine in Thesenform gestellte Frage, um das Ge­spräch darüber zu lancieren.

Die Antwort der Autorin darauf lautet: <Nö, das würde ich jetzt nicht sagen...>
Daraufhin hat die Redaktorin mit der Frage nachgehakt: <Männer sind im Buch gefährliche Testosteronbomben......... Wie kommt es, dass so viele Männer im Buch krass überzeichnet sind...?> Die Autorin nimmt dann in einer längeren und klärenden Antwort Stellung dazu. Dieser Ge­sprächsabschnitt war also keinesfalls eine Bejahung des zitierten Männerbildes, sondern eine kritische Hinterfragung. Der Vorwurf des Beanstanders, in der Sendung sei das männli­che Geschlecht beleidigt worden, ist hier klar zurückzuweisen.

Zum Schluss noch folgende Anmerkungen:
Die zitierten Ausschnitte stammen aus einem Buch, das zum Zeitpunkt der Ausstrahlung unter den ersten zehn Plätzen der ‘Spiegel Bestenliste’ stand. Es muss möglich sein, in einer Literatur-Hintergrundsendung aus einem Buch zu zitieren, das allen zugänglich ist, das eine grosse Leserschaft ge­funden hat und auch in den Medien breit diskutiert wurde. Es war in keiner Weise Absicht, die Männer generell und im Speziellen Herrn X zu belei­digen.»

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Die Schriftstellerin Sibylle Berg hat einen Roman geschrieben.[2] Ein Roman ist erstens ein Kunstwerk, zweitens Fiction, drittens oft auch ein Stück Lebenswirklichkeit der schreibenden Person, eine Verarbeitung der biografischen Erfahrungen. Es ist die Aufgabe der Medien, über Literatur zu berichten, denn Literatur gehört zum Leben wie Musik, Theater, das Kino oder die bildende Kunst. Die Literaturkritik besteht darin, Bücher vorzustellen, sie mit anderen Büchern anderer Autoren zum gleichen Thema oder des gleichen Autors zu anderen Themen zu vergleichen, sie kritisch zu würdigen. Sybille Berg hat einen Roman verfasst, der ein eher düsteres Gesellschaftsbild wiedergibt. In der von Ihnen kritisierten Sendung führt die Literaturredaktorin Esther Schneider mit Sibylle Berg ein interessantes und thematisch breites Gespräch über das Buch. Das Männerbild ist nur ein Teilthema. Als Esther Schneider einwirft, dieses Männerbild sei doch «krass überzeichnet», entgegnet Sibylle Berg mit einem Strauß von Argumenten, die das real existierende Patriarchat belegen, und man muss ihr Recht geben. Die Autorin erweist sich als sehr gut informiert, sie hat breit recherchiert, ihr Roman basiert auf beweisbaren Fakten. Dennoch muss man nicht mit allem einverstanden sein, aber es gehört zur Freiheit der Dichter und Denker, auch das Grässliche und das Unsägliche auszusprechen. 1966 veröffentlichte der in Basel lehrende Philosophieprofessor Karl Jaspers das Buch «Wohin treibt die Bundesrepublik?».[3] Er zeigte Fehlentwicklungen vor allem der Politik auf. Das Buch erregte großes Aufsehen. Das neue Buch von Sibylle Berg könnte man auch nennen: «Wohin treibt unsere Gesellschaft?». Die Analyse ist hart, aber nötig.

Wenn das Radio ein Buch rezensiert, dann muss es als Hörmedium auch daraus zitieren können. Und das Publikum sollte bereit sein, sich auf die Art und Weise, wie sich eine Schriftstellerin mit der gegenwärtigen Welt auseinandersetzt, einzulassen. Die Literaturredaktionen treffen immer eine Vorauswahl. Sie sondern schlechte Bücher, die nicht der Rede wert sind, aus. Wichtige, interessante, aufwühlende, packende Bücher aber werden besprochen – mit allem, was dazugehört, auch mit Zitaten. Sibylle Berg muss man zubilligen, dass sie nicht unbegründet kritisch über Männer schreibt. Die Männer sind dadurch nicht diskriminiert. Ich kann daher Ihre Beanstandung nicht unterstützen.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüssen,
Roger Blum, Ombudsmann

[1]https://podcasts.google.com/?feed=aHR0cDovL3d3dy5zcmYuY2gvZmVlZC9wb2RjYXN0L3NkL2ExODg2MmJhLTEyMDktNDNjMy04OTMzLWEzNDVmMTc2YjNjMi54bWw&episode=OTIwZmI0ZTItYzJkZC00YmM1LTk4MTEtMTcxM2U2M2VjMzg3&at=1560695537649

[2] https://www.kiwi-verlag.de/buch/grm/978-3-462-05143-8/

[3] https://www.booklooker.de/Bücher/Jaspers-Karl-Wohin-treibt-die-Bundesrepublik/id/A00Qwt8i01ZZ0?pid=8&gclid=EAIaIQobChMIvbvOv7KT5AIV1OJ3Ch3cqwh7EAQYASABEgLEsvD_BwE

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