«Tagesschau»-Beitrag «Tragödie im Mittelmeer» beanstandet

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Mit Ihrer E-Mail vom 30. Juli 2019 beanstandeten Sie die «Tagesschau» vom 26. Juli 2019 und dort den Beitrag «Tragödie im Mittelmeer».[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann daher darauf eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

„Bericht über Bootsunglück vor der libyschen Küste. Der Bericht zeigte dabei von nahe die Gesichter mehrerer überlebender Flüchtlinge. Die tiefe Traumatisierung war ihnen deutlich anzusehen. Einige Flüchtlinge schauten direkt in die Kamera, dh es war ihnen bewusst, dass sie gefilmt wurden. Es verstösst meines Erachtens gegen die Menschenwürde, Menschen in einer solchen psychischen Verfassung zu filmen und dies auszustrahlen. Ich will zudem nicht zur Mittäterin eines solchen Geschehens werden, indem ich die Sendung schaue.“

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die «Tagesschau» äußerte sich Herr Franz Lustenberger, ehemaliger stellvertretender Redaktionsleiter der Sendung:

„Mit Mail vom 30. Juli 2019 hat Frau X eine Beanstandung gegen die Tagesschau vom 26. Juli eingereicht. Die Tagesschau hat in zwei Beiträgen das Bootsunglück vor der libyschen Küste und die italienische Migrationspolitik behandelt.

Flüchtlingspolitik

Das Bootsunglück vor der libyschen Küste macht betroffen – zu Recht. Wie der im Beitrag auftretende Sprecher des UNO-Flüchtlingshilfswerkes sagt, war es mutmasslich die grösste Tragödie auf dem Mittelmeer in diesem Jahr. Dies war auch ein Grund, weshalb das Thema in der Tagesschau aufgenommen wurde. Das Einzelereignis wie die Flüchtlingspolitik als Ganzes sind aktuell und relevant.

Es scheint uns wichtig, dass SRF die Flüchtlingsthematik in den verschiedenen Sendungen immer wieder aufgreift. Es geht um die Schicksale von Abertausenden von Menschen in den Lagern in Libyen und um deren Verzweiflung, die sie dazu bringt, in sehr unsicheren Booten die Fahrt übers Mittelmeer in Richtung Europa zu riskieren. Es geht aber auch um die Migrationspolitik Italiens, der EU und ganz Europas. Der Umgang mit den Flüchtlingen hat wie kein anderes Thema die EU entzweit. Würden wir wegschauen und nicht darüber berichten, würden wir unseren Auftrag nicht wahrnehmen.

Bildauswahl

Die Beanstanderin kritisiert im Wesentlichen die Bildauswahl des Beitrages. Wir bedauern, wenn sich die Beanstanderin durch das Betrachten des Beitrages als ‚Mittäterin‘ sieht. Das ist sie aus unserer Sicht ganz gewiss nicht. Die Bildauswahl in den SRF-Beiträgen wird streng kontrolliert. Dabei richten sich alle Sendungen nach dem Gesetz, der Konzession und den eigenen Publizistischen Leitlinien: In Artikel 4 des Bundesgesetzes für Radio und Fernsehen (RTVG) sind die Mindestanforderungen an den Programminhalt festgeschrieben: <Die Sendungen haben insbesondere die Menschenwürde zu achten...> Und weiter: <Redaktionelle Sendungen mit Informationsgehalt müssen Tatsachen und Ereignisse sachgerecht darstellen, so dass sich das Publikum eine eigene Meinung bilden kann.>

In der Programmcharta der SRG wird festgehalten: <Wir zeigen die Welt, die Menschen und ihr Handeln in allen ihren Ausprägungen - auch unangenehmen, kontroversen, provokativen und schockierenden. Wir sind uns dabei der unterschiedlichen Wirkungen auf unser Publikum bewusst und tragen dem in geeigneter Weise Rechnung.>

Die Sequenzen mit den geretteten Flüchtlingen unter einem Zeltdach in Libyen missachten aus unserer Sicht die oben festgehaltenen Grundsätze und Kriterien nicht. Sie sind in keiner Art und Weise reisserisch. Die geretteten Flüchtlinge werden in ihrer Situation gezeigt und nicht zur Schau gestellt. Die Stille in den Sequenzen und die traurigen Blicke der Menschen bringen indes die ganze Dramatik des Unglücks zum Ausdruck. Gerade deswegen machen sie wohl so sehr betroffen und lösen Emotionen aus. Die Bilder stehen zudem in einem grossem Kontrast zum nachfolgenden Auftritt von Italiens Innenminister Matteo Salvini.

Der Beanstanderin möchten wir versichern, dass sich SRF der Problematik solcher Bilder sehr bewusst ist. Alle Programmschaffenden stellen sich immer wieder die Frage, welche Bilder sind nötig, um ein Ereignis sachgerecht darstellen zu können und welche Bilder dienen einzig und allein dem Voyeurismus eines Teils des Publikums.

Ich bitte Sie, die Beanstandung in diesem Sinne zu beantworten.“

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Es gibt in der Tat Situationen, in denen Medien schweigen und Bilder nicht veröffentlichen sollten. Man spricht dann von der «Ethik des Unterlassens». Der Journalist und Philosoph Ludwig Hasler hat darüber einen grundlegenden Aufsatz geschrieben.[2] Und der Schweizer Presserat hat 1998 eine grundlegende Stellungnahme verabschiedet über den Umgang mit Schock- und People-Bildern.[3] In den Feststellungen schrieb er: Medienschaffende «sollten stets bedenken, was man mit der Publikation eines Bildes anrichtet. Sich dabei auch stets fragen, wer verletzt werden könnte: die abgebildete Person? Der Betrachter? Oder gar beide?» Bei Schockbildern von Konflikten und Kriegen sollten sich die Medienschaffenden fragen: «Was zeigen die Bilder wirklich? Sind sie ein zeitgeschichtliches Dokument, somit einmalig? Ist eine Person als Individuum erkennbar? Wird ihre Menschenwürde verletzt?»

Diese Fragen rufen Journalistinnen und Journalisten dazu auf, im Umgang mit solchen Bildern sehr sorgfältig zu sein und stets ethisch abzuwägen, was zumutbar ist und was an die Öffentlichkeit gehört. Die Bilder der geretteten Bootsflüchtlinge sind kein einmaliges historisches Dokument wie beispielsweise die nackten Kinder, die in Vietnam weinend flüchten. Und dennoch haben sie dokumentarischen Wert, denn sie belegen, dass es auch Überlebende gibt. Die Abgebildeten werden nicht in einem unwürdigen Zustand gezeigt; sie werden nicht erniedrigt. Ihre Menschenwürde bleibt gewahrt. Und auch dem Publikum sind solche Bilder zumutbar. Deshalb kann ich Ihre Beanstandung nicht unterstützen. Ich danke Ihnen aber, dass Sie mit Ihrer Beanstandung dazu beitragen, die Redaktionen an ihre ethische Verantwortung zu erinnern und somit die Sensibilisierung zu fördern.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüssen,
Roger Blum, Ombudsmann

[1] https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/tagesschau-vom-26-07-2019-1930?id=cc0755f1-7890-4139-9953-05f0cdb6eb2f

[2] Ludwig Hasler (1992): Die Tugend des Unterlassens. Ethik wirkt auch negativ – oder: Das Prinzip Offenheit lässt es gelegentlich ratsam erscheinen, auf Öffentlichkeit zu verzichten. In: Michael Haller/Helmut Holzhey (Hrsg.): Medien-Ethik. Beschreibungen, Analysen, Konzepte für den deutschsprachigen Journalismus. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 212-221.

[3] https://presserat.ch/complaints/umgang-mit-schock-und-people-bildern-stellungnahme-vom-20-februar-1998/

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