«Rendez-vous»-Beitrag «Massnahmen gegen häusliche Gewalt an Frauen» beanstandet
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Mit Ihrem Brief vom 6. September 2019 beanstandeten Sie die Sendung «Rendez-vous» (Radio SRF) vom gleichen Tag und dort den Beitrag «Massnahmen gegen häusliche Gewalt an Frauen».[1] Am 15. September 2019 reichten Sie auch noch den Mail-Wechsel mit der Redaktion des «Rendez-vous» nach. Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann daher darauf eintreten.
A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:
„In diesem Beitrag wird die häusliche Gewalt an Frauen in Frankreich, Spanien und der Schweiz beleuchtet und zwar einseitig und fehlerhaft. Es wird nur darauf hingewiesen, dass in der Schweiz alle Bildungsschichten und auch Schweizer betroffen sind. Praktisch mit keinem Worten wird darauf eingegangen, dass in der Mehrzahl Migranten und Personen mit Migrationshintergrund betroffen sind. So sind 21 % der Mazedonier, 19% der Kosovaren, 15% der Türken und nur 4% der Schweizer
Befürworter von Gewalt gegen Frauen (Quelle: Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften). Neben der Nationalität der Opfer und Täter spielt auch die Religion eine entscheidende Rolle: 19% der Muslime und nur 4% der Protestanten in der Schweiz sind in diesem Zusammenhang für Gewalt an Frauen. Das gleiche Bild ergibt übriqens auch die Statistik des Bundes und der Polizei über die Behandlung und Aburteilung solcher Delikte .
Die Stossrichtung dieser Radiosendung ist klar: mit halben Wahrheiten will man verdecken, wer die Täter und die Betroffenen mehrheitlich wirklich sind . Wenn man aber so denkt, sollte man so eine Sendung gar nicht ausstrahlen. Das Vorgehen sollte durch Sie gerüqt werden (Sachgerechtigkeitsgebot). Lch erwarte, dass SRF in Zukunft Informationsjournalismus betreibt und nicht Halbwahrheiten (halbe Wahrheiten) verbreitet.“
B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die Sendung «Rendez-vous» äusserte sich Herr Fredy Gsteiger, stellvertretender Chefredaktor von Radio SRF:
«Besten Dank für die Gelegenheit, Stellung zu nehmen zur Beanstandung von Herrn X. Herr X Beanstandung betrifft die Sendung ‘Rendezvous’ vom 6. September, in der es unter anderem um häusliche Gewalt gegen Frauen ging. Dieses Thema, so Herr X, sei einseitig und fehlerhaft beleuchtet worden, indem behauptet worden sei, dass ‘alle Bildungsschichten und auch Schweizer betroffen sind’. Herkunft und Religion spielten, so der Beanstander, der sich auf Zahlen der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften stützt, durchaus eine Rolle.
Wenn das Thema des Schwerpunkts in der Sendung die Herkunft – ethnisch oder religiös – der Täter gewesen wäre und wir so getan hätten, als käme dieses Verbrechen überall gleichermassen vor, dann hätten wir in der Tat wichtige Informationen ausgeblendet, ja unterschlagen. In diesem Fall hätten wir allerdings die Zahlen der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften genauer erläutern müssen: Denn um von einer – durchaus möglichen – höheren Tathäufigkeit unter Ausländern oder Muslimen zu sprechen, reicht es nicht, einfach Prozentzahlen zur Tathäufigkeit in Relation zu setzen. Man müsste ebenfalls thematisieren, dass in der Schweiz lebende männliche Ausländer und Muslime im Durchschnitt jünger und weniger gebildet, hingegen häufiger arbeitslos sind und unteren sozialen Schichten angehören. Das heisst, man muss die Zahlen für die Ausländer mit jener von Schweizern vergleichen, die ebenfalls denselben Kategorien angehören, also eher jung, arm, ungebildet. Täte man das, so lässt sich zumindest vermuten, dürfte der Unterschied geringer, möglicherweise gar deutlich geringer ausfallen. Dieser Vorbehalt gilt für jede Interpretation von Kriminalitätszahlen aufgrund der Täterherkunft.
In unserem Schwerpunkt ging es aber gar nicht um diesen, durchaus wichtigen und interessanten Aspekt der Problematik. Es ist weder möglich noch sinnvoll, jeweils ein Thema – hier die häusliche Gewalt -, jedes Mal umfassend abzubilden. Beiträge würden dadurch überladen und wären kaum noch verständlich. Hingegen dürfen wir diesen spezifischen Blick auf das Thema in unserer Berichterstattung nicht grundsätzlich ausblenden, was wir auch keineswegs tun.
In den zwei konkret kritisierten Berichten und dem Moderationsgespräch dazu war aber der Anlass der Berichterstattung ein anderer: Es ging darum, dass Frankreich neue Massnahmen zur Bekämpfung der häuslichen Gewalt vorgestellt hat. Darüber hat Paris-Korrespondent Daniel Voll sachlich berichtet in seinem kurzen Beitrag.
Anschliessend blickten wir auf Spanien, auf ein Land, das diese oder vergleichbare Massnahmen bereits eingeführt hat, also bereits weiter ist als Frankreich. Ein konkretes Schicksal lieferte in Spanien der Politik den Anlass für ein härteres, umfassender Vorgehen. Dieses Schicksal und die daraus abgeleiteten politischen Schritte hat Auslandredaktorin Melanie Pfändler dargestellt.
Im Gespräch mit Inlandredaktorin Andrea Jaggi blickten wir schliesslich noch auf die Schweiz. In diesem Gespräch bildete dann das, was Herrn Moll fehlte, einen Teilaspekt, und zwar gleich am Anfang. Auf die entsprechende Frage antwortete Andrea Jaggi, dass die wirtschaftliche Situation eines Mannes – konkret: Arbeitslosigkeit – durchaus eine Rolle spielen und die Tatwahrscheinlichkeit erhöhen könne. Und ebenso ‘patriarchale Strukturen’, zumal häusliche Gewalt ‘besonders häufig zu beobachten sei in Familien mit Migrationshintergrund’. Sie zitiert dann allerdings auch Experten, die sagen, grundsätzlich käme häusliche Gewalt in unterschiedlichen Bildungsschichten und Menschen verschiedener Kulturen und auch bei Schweizern vor. Damit sagen diese Experten jedoch nicht, sie käme überall in gleichem Masse vor. Im weiteren Teil des Gesprächs wurde dann wiederum – wie in den beiden vorangegangen Berichten – auf juristische und präventive Schritte und Massnahmen fokussiert. Wiederum aufgrund des Aufhängers für uns, nämlich das Vorgehen der französischen Regierung.
Die Berichte waren also, nach unserem Verständnis, sachgerecht. Sie behandelten aber selbstverständlich die Problematik der häuslichen Gewalt nicht umfassend und mit all ihren relevanten Teilaspekten. Wir bitten Sie daher, sehr geehrter Herr Blum, die Beanstandung abzulehnen.»
C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Radio und Fernsehen in der Schweiz verfügen über die Programmautonomie. Das heißt: Sie können ihre Themen, den Fokus und die Herangehensweise selber wählen. Das Radio- und Fernsehgesetz sagt in Artikel 6, Absätze 2 und 3:
2 „Sie – die Programmveranstalter - sind in der Gestaltung, namentlich in der Wahl der Themen, der inhaltlichen Bearbeitung und der Darstellung ihrer redaktionellen Publikationen und der Werbung frei und tragen dafür die Verantwortung.
3 Niemand kann von einem Programmveranstalter die Verbreitung bestimmter Darbietungen und Informationen verlangen.“
Ist der Fokus einmal gewählt, dann verlangt allerdings die Sachgerechtigkeit, dass alle relevanten Aspekte dieses Themenzugriffs behandelt werden. Wenn der Fokus lautet: Was tun die politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen verschiedener Länder, um die häusliche Gewalt zu bekämpfen?, dann gehört die Frage nach der Nationalität und der Religion der Täter und Opfer nicht zwingend dazu. Soweit kann ich der Redaktion zustimmen. Und ich neige auch dazu, aus Respekt vor der Programmautonomie, Ihre Beanstandung nicht zu unterstützen.
Und dennoch ist die Reaktion auf Ihre Beanstandung unbefriedigend. Denn das Thema ist brisant und relevant. Wie die Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen, nimmt die häusliche Gewalt in der Schweiz zu: Im Jahr 2017 wurden 17‘024 Straftaten verzeichnet, im Jahr 2018 deren 18‘522.[2] Und man muss stets davon ausgehen, dass es einen beträchtlichen Graubereich gibt, da gerade Delikte, die sich im familiären, privaten Bereich abspielen, vielfach nicht gemeldet und nicht entdeckt werden. 2017 waren unter den Geschädigten 73 Prozent Frauen und 27 Prozent Männer. Zahlen zum Migrationszusammenhang sind erst spärlich vorhanden, aber in den Informationsblättern des Eidgenössischen Büros für Gleichstellung von Mann und Frau wird man fündig. [3] In Nr. 9, die Periode 2009-2016 betreffend, steht: „Frauen der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung werden doppelt so häufig Opfer eines Tötungsdelikts in der Partnerschaft als Schweizerinnen.“ Nr. 19 vom Oktober 2019 doppelt nach: „Die Rate der Tatverdächtigen – zu 79 % sind es Männer – ist bei
ausländischen Staatsangehörigen doppelt so hoch wie jene von schweizerischen.“ Differenzierte Daten, die den Zusammenhang der häuslichen Gewalt mit einem Migrationshintergrund erfassen und erklären, fehlen noch für die Schweiz. Ergänzend könnte die Forschungsexpertise von Prof. Dr. Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention im Departement für Soziale Arbeit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)[4] und seinem Team beigezogen werden.
Die Thematik ist von hoher Aktualität. Und ich würde Radio und Fernsehen SRF dringend empfehlen , der Problematik in einer weiteren Sendung (oder in mehreren Sendungen) vertieft nachzugehen. Das Thema gehört auf den Tisch.
D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüssen,Roger Blum, Ombudsmann
[1] https://www.srf.ch/sendungen/rendez-vous/simbabwes-ex-praesident-robert-mugabe-gestorben
[2] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kriminalitaet-strafrecht/polizei/haeusliche-gewalt.html
[3] https://www.ebg.admin.ch/ebg/de/home/dokumentation/publikationen-allgemein/publikationen-gewalt.html
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