«Tagesschau»-Beitrag «Hunderte Festnahmen» beanstandet

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Mit Ihrer E-Mail vom 4. August 2019 beanstandeten Sie die «Tagesschau» vom 3. August 2019 und dort den Beitrag «Hunderte Festnahmen».[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann daher darauf eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

«Ich habe leider ein weiteres Mal eine Beanstandung an der Berichterstattung des SRF Korrespondenten Teams in Moskau/Russland zu melden. Es geht um die gesamte Berichterstattung rund um die Demonstration ‘für faire Lokalwahlen’ von gestern 3.August in Moskau, die Berichterstattung wurde am 3.August in der Hauptausgabe der Tagesschau am 19:30 ausgestrahlt.

Hintergrund:

  • Eine Kundgebung wurde von Herrn Alexei Anatolievich Navalny’s Partei ‘Russia of the future’ im Rathaus in Moskau für den 3.August beantragt. Die Demonstration wurde gutgeheissen sofern die Demonstration unter dem geltenden Recht am ‘Sacharov Prospekt’ stattfindet. Diese Forderung wurden von ‘Russia of the future’ abgelehnt.
  • Stattdessen ruft ‘Russia of the future’ ihre Anhänger zur unbewilligten Kundgebung an einem anderen Ort (im Stadtzentrum) auf.
  • In der Folge kommt es zu den bei einem Rechtsstaat üblichen Problemen, Rangeleien, Verhaftungen, Bussen und Haftstrafen bei einer unbewilligten Demonstration.

Nun zu meinen Fragen respektive Beanstandungen zum Beitrag:

  • Thema ‘Lücke in der Berichterstattung’: Warum wird im Beitrag ein weiteres Mal nicht erwähnt, dass es sich bei dieser Demonstration um eine unbewilligte Demonstration handelt? Dieser wichtige fehlende Fakt würde für die Zuschauer diese Demonstration in ein komplett anderes Licht rücken. Warum erwähnt das Korrespondenten Team nicht, dass die identische Demonstration an einem anderen Ort bewilligt worden wäre?
  • Thema Zusammenarbeit mit ‘Kriminellen’: Warum nimmt ein SRF Fernsehstudio an einer unbewilligten Demonstration teil? Herr Navalny ist ein verurteilter Krimineller (wegen anderen Straftaten) und er ignoriert notorisch Vorgaben/Abmachungen zur demokratischen Rede- und Meinungsäusserung in Russland.
  • Thema ‘für faire Lokalwahlen’: Welche anderen Parteien respektive wer genau, von den paar Dutzend nicht zur Wahl zugelassenen Politiker, haben an dieser Demonstration teilgenommen? Warum bringt das SRF nur Navalny respektive seine Partei in diesem Beitrag, es geht angeblich um ‘faire Lokalwahlen’ und es sind hunderte Kandidaten offiziell zugelassen (auch Oppositionelle). Wer und wieviele Kandidaten sind nicht zugelassen? Wo findet man dazu Informationen in diesem Beitrag?
  • Thema ‘Experte Mischa Gabowisch’: Wer ist Herr Gabowitsch vom ‘Einstein Forum’[2]? Ich habe Herrn Gabowitsch und sein im Beitrag genannten Arbeitgeber ‘Einstein Forum’ nicht gekannt. Mit etwas Recherche habe ich rausgefunden, dass Herr Gabowitsch gemäss eigener Homepage[3] für das ‘Einstein Forum’ arbeitet, aber nicht zum Thema russische Politik und Opposition. Sein Tätigkeitsbereich beim ‘Einstein Forum’ ist gemäss seiner eigenen Aussage, Zitat: <Derzeit bin ich wissenschaftlicher Mitarbeiter am ‘Einstein Forum’ in Potsdam und arbeite mit Unterstützung der Hamburger Stiftung für Wissenschaft und Kultur (ab Juli 2013) an einer kollektiven Biographie sowjetischer Kriegerdenkmäler.> Seine Tätigkeit im ‘Einstein Forum’ steht somit gemäss seiner eigenen Aussage nicht im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Untersuchung der russischen Opposition. Seine Tätigkeiten bei anderen Organisationen, seine privat geäusserten Ansichten oder sein Buch mit dem Titel ‘Putin kaputt !?’ lassen auf ein gewisses, wenn auch vermutlich etwas einseitiges, Expertentum zum Thema schliessen.
  • Thema ‘Verhaftung von Frau Luzia Tschirky’. Frau Luzia Tschirky wurde nach eigener Aussage kurz verhaftet (ihre Aussage bei ca Minute 5:45 im Interview mit ihr). Ich vermute es wurde bei ihr nur die Presseakkreditierung verifiziert, sie konnte danach den Bus ohne weitere Konsequenzen verlassen. Somit wäre dies keine Verhaftung, sondern es wäre meines Wissens nur eine Personenkontrolle respektive Kontrolle Ihre Zulassung als Journalistin, vermutlich wurde sie nicht verhört, sie machte keine protokolierte Aussage. Frau Tschirky hat sich mit einem Experten mitten an einer unbewilligten Demonstration aufgehalten, erwartet sie etwa den roten Teppich für sich und ihren Experten?

Meine Vermutung zur chronisch negativen Berichterstattung und Nähe zu Herrn Navalny’s Partei ‘Russia of the future’ vom SRF Korrespondententeam in Moskau ist:

  • Herr Navalny missbraucht die ‘naive’ Presse im Westen für seine Zwecke:
    • Herr Navalny ist für die russische Bevölkerung unbedeutend, er ist für die breite Massen der Russen absolut unwählbar, er ist für die Russen ein politischer Provokateur, Populist, Nestbeschmutzer, westlich gesteuert, kriminell und durch seine Nähe zu schillernden Figuren der russischen 90 und frühen Nuller Jahre vermutlich selbst korrupt und nicht glaubhaft. Seine Partei vertritt einen neoliberalen Wirtschaftsstil und politisiert stark rechts mit nationalen Themen und Thesen. Politisch steht er in etwa, stellt man ihn bekannten europäischen Pendant gegenüber, aus einem Mix aus ‘cinque stelle’, Neoliberalen und der deutschen AFD. Seine angebliche Bekämpfung der Korruption ist meiner Meinung aufgesetzt, da er eine gewisse Nähe zu aktuellen oder Ex-Oligarchen hat. Diese politische Haltung ist nie das Thema in den Beiträgen des SRF.
    • Herr Navalny und seine Mitstreiter geben als ‘Finte’ die Demonstration offiziell ein, sie halten sich jedoch nicht an Routen respektive Abmachungen und Entscheide, man findet deshalb mit Herrn Navalny und seiner Partei keine Einigung. Dies macht Herr Navalny als gelernter Jurist bewusst, damit er sich für den Westen medienwirksam auf unbewilligten Demonstrationen verhaften lassen kann. Diese Verstosse gegen das russische Demonstrationsrecht sind nur Ordnungswidrigkeiten, welche nur mit Bussen und maximal kurzer Haft bestraft werden. In spätestens 30 Tagen ist er wieder frei, dies weiss er und seine Mitstreiter. Mit dieser ‘Finte’ umgeht Herr Navalny einer möglichen Verhaftung für weit schwerere Delikte wie ‘Aufruf zum Regierungsumsturz’, ‘Aufruhr gegen die Staatsgewalt’ etc.
  • Das Korrespondententeam mag offensichtlich nicht Herrn Putin und die aktuelle russische Regierung und respektiert somit nicht den demokratischen Willen der russischen Bevölkerung. Dies merkt man in der stets negativ besetzten Wortwahl zu Putin und dem Staate Russland und der permanenten und unkritischen Berichterstattung und Nähe zu angeblichen Oppositionellen, respektive ‘Putin- und Kremlkritiker’, ‘Gallionsfiguren’ und ‘Hoffnungsträger der Opposition’ etc.

Deshalb bin ich der Meinung, dass das SRF Korrespondenten Team in Moskau nicht nach neutralen, sauberen journalistischen Standards arbeitet. Sie lassen gezielt wichtiges Hintergrundwissen weg (Thema Lückenpresse) und präsentieren anstelle dessen antirussische Stimmungsmache dem Publikum. Dies alles ist meiner Meinung darin begründet, weil die Korrespondenten eine spürbare Abneigung gegenüber der aktuellen legitimierten russischen Führung und offensichtlich mit der politischen Opposition und im speziellen mit der Partei ‘Russia of the future’ sympathisieren. Und sie werden meiner Meinung offensichtlich im Speziellen von Herrn Navalny’s Partei ‘Russia of the future’ gezielt missbraucht respektive instrumentalisiert.

Es würde meiner Meinung den Korrespondenten gut anstehen mehr Sachlichkeit walten lassen, ihre rein persönlichen politische Ansichten aus ihren Reportagen und Beiträgen wegzulassen und vollumfänglich neutral zu informieren.

Meine Beanstandungen, sollten sie sich konkretisieren, können nicht im Sinne der Gebühren zahlenden Zuschauer, der Leitung und Kontrolle des SRF sein. Dies vor allem in Zeiten, da sich immer mehr Zuschauer genau aus solchen Gründen (Thema Lügen- und Lückenpresse) von den angeblichen Qualitätsmedien zu alternativen Medien abwenden.»

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die «Tagesschau» äusserte sich Herr Franz Lustenberger, ehemaliger stellvertretender Redaktionsleiter der Sendung:

„Mit Mail vom 4. August 2019 hat Herr X eine ausführliche Beanstandung gegen die Tagesschau vom Vortag eingereicht. Gegenstand der Beanstandung ist die Berichterstattung über eine Demonstration in Moskau. Die Tagesschau nimmt zu den einzelnen Punkten der Beanstandung wie folgt Stellung:

‚Lücke in der Berichterstattung‘

Bei den Ereignissen vom 3. August in Moskau kann man nicht von einer wirklichen Demonstration sprechen, da sich die Menschen gar nicht erst zu einer Demonstration zusammenfinden konnten, als sie durch die Polizei festgenommen wurden. Wie dies im Beitrag auch versucht wird zu zeigen - mit den Aufnahmen vor Ort und den Schilderungen von SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky im live-Gespräch mit Moderator Florian Inhauser. Den von den Behörden vorgeschlagenen Ort hat die Opposition in den Wochen zuvor akzeptiert. Allerdings ist es nicht korrekt von einer «‘identischen Demonstration an einem anderen Ort‘ zu sprechen, da der ‚Sacharow Prospekt‘ nicht innerhalb des innersten Stadtzentrums von Moskau liegt. Den Antragsstellern für eine Bewilligung einer Demonstration, zu welcher unterschiedliche oppositionelle Gruppierungen gehörten, war es wichtig, im Stadtzentrum in der Nähe einer, aus ihrer Sicht für die Ausgangslage verantwortlichen Behörde zu demonstrieren.

Die Oppositions-Grupppierungen haben im Vorfeld über die Gespräche mit der Stadtverwaltung transparent kommuniziert. Unter anderem hat Michail Swetow von der ‚Libertären Partei‘ auf dem Kurznachrichtendienst Twitter am 30. Juli 2019 geschrieben: <Der Bürgermeister hat bestätigt, dass ausser der Sacharow Allee kein Platz in ganz Moskau für unsere Demonstration in Frage kommen würde. Wie sich die Situation nun weiterentwickelt, ist ausserhalb unserer Einflussmöglichkeiten. Alle anderen Formen einer öffentlichen Aktion, wie zum Beispiel einen Demonstrationszug, haben die Behörden prinzipiell abgelehnt. Ein direktes und hartes Ultimatum.>[4]

Dass die Menschen mit dem Aufenthalt im Stadtzentrum und in Umgebung des Sitzes des Moskauer Bürgermeisters in Kauf genommen haben, von der Polizei festgenommen zu werden, kommt im Beitrag an zwei Stellen vor. Zum Vergleich: In der Schweiz sind die Behörden geboten, in Abwägung mit dem öffentlichen Interesse bei der Prüfung einer Bewilligung für eine Demonstration einen Ort zu Verfügung zu stellen, der zur Ausübung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sachdienlich ist. Bei den in Russland bewilligten Demonstrationen auf dem ‚Sacharow Prospekt‘ handelt es sich um Veranstaltungen, die völlig vom Verkehr und dem Alltagsleben der Stadt und damit der Bevölkerung abgeschirmt stattfinden, nämlich auf einem durch Last- und Polizeiwagen abgesperrten Gelände, an dessen Aus- und Eingängen Metalldetektoren aufgestellt sind. Erst nach Kontrollen durch die Polizei kann das Gelände betreten werden.

Zusammenarbeit mit ‚Kriminellen‘

Weder Luzia Tschirky als Korrespondentin noch der Experte Mischa Gabowitsch waren Teilnehmer einer Demonstration. Beide haben weder die Absicht verfolgt zu demonstrieren, noch haben sie überhaupt an einer Demonstration teilgenommen. Diese Unterstellung, SRF sei Teil der Demonstration, weist die Redaktion in aller Form zurück. Die Berichterstattung setzt Präsenz vor Ort voraus, nur so kann sich ein Reporter/eine Reporterin ein Bild der Ereignisse machen.

Wie bereits dargelegt, hat sich zu keinem Zeitpunkt eine Menschenansammlung gebildet, aus welcher eine Demonstration ersichtlich gewesen wäre. Es waren keine Slogans und keine Plakate in der Umgebung der Korrespondentin zu sehen. Dass die Tagesschau grundsätzlich über die Protestbewegung im Sommer 2019 berichtet, gehört zum Informationsauftrag der Moskau-Korrespondentin. Seit acht Jahren haben nicht mehr so viele Menschen in Moskau auf der Strasse demonstriert, wie während dieses Sommers.

Luzia Tschirky ist mit einem Experten in die Nähe des Bürgermeisteramtes gefahren, da sich die Kritik bereits in den Wochen zuvor insbesondere gegen die Stadtregierung von Moskau gerichtet hatte; sie als TV-Journalistin wollte sich selber ein Bild vor Ort machen. Mischa Gabowitsch hat sich seit Jahren mit Protestbewegungen in Russland auseinandersetzt. Gemeinsam wollten die Korrespondentin und der Experte die Situation für den Zuschauer und die Zuschauerin einordnen. Die Verurteilung von Alexei Nawalny durch russische Gerichte wird explizit erwähnt (‚Nawalny wurde schon mehrfach von russischen Gerichten verurteilt‘). Die Korrespondentin ordnet im Gespräch mit dem Moderator im Studio diese Urteile ein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das Vorgehen seitens der russischen Behörden gegenüber Nawalny in Zusammenhang mit Festnahmen in den Jahren 2012 – 2014 als politisch motiviert verurteilt. [5]

Faire Lokalwahlen

Zum Zeitpunkt der Ausstrahlung des Beitrages liefen noch Appellationsverfahren vor der zuständigen Wahlkommission Russlands. Der Umstand, dass über den Ausschluss der Kandidaten am besagten 3. August noch nicht definitiv entschieden worden, wird auch im Gespräch mit dem Experten Mischa Gabowitsch angesprochen. In einem Beitrag lässt sich die sehr stark zersplitterte Opposition in Russland kaum vollständig abbilden. SRF hat jedoch am Tag zuvor in einem Beitrag in der Tagesschau die Kandidatin Anastasia Bruchanowa zu Wort kommen lassen.[6] Anastasia Bruchanowa spricht darin über ihre Hoffnungen, zur Wahl zugelassen zu werden, welche sich allerdings in der Zwischenzeit zerschlagen haben. Anastasia Bruchanowa wurde nicht zugelassen, obwohl sie eine ausreichende Anzahl an gültigen Unterschriften zusammentragen konnte. Anastasia Bruchanowa gehört der liberalen Oppositionspartei Jabloko an; damit ist verdeutlicht, dass die Russland-Berichterstattung bei SRF keineswegs auf die Unterstützer und Unterstützerinnen von Alexei Nawalny beschränkt ist.

Es war zum Zeitpunkt der Ausstrahlung des Beitrages nicht möglich den laufenden Verfahren vorzugreifen. Mit der Einschätzung durch den Experten Gabowitsch sollte dies für den Zuschauer entsprechend eingeordnet werden, und wie sich in der Zwischenzeit herausgestellt hat, war die Einschätzung von Mischa Gabowitsch sehr zutreffend, dass Kandidaten der ausserparlamentarischen Opposition - von wenigen Ausnahmen abgesehen - nicht zur Wahl zugelassen wurden.

Experte Mischa Gabowitsch

Die Tagesschau verweist an dieser Stelle auf diverse Artikel, die Mischa Gabowitsch zu Protestbewegungen publiziert hat.[7] Mischa Gabowitsch ist Soziologe und Zeithistoriker. Er war Chefredakteur der russischen Zeitrschriften NZ und Laboratorium. Am Einstein Forum hat er ein Forschungsprojekt zum Wandel der Protestkultur in Russland geleitet. Mischa Gabowitsch hat während Jahren die unterschiedlichsten Proteste in Russland wissenschaftlich erforscht, insbesondere auch ausserhalb Moskaus in den Regionen Russlands. Mischa Gabowitsch hat dazu tausende von Interviews geführt mit Menschen, die an Protesten in Russland teilnehmen. Er gilt als ausgewiesener Experte im deutsch-englischen und französischsprachigen Raum.

‚Verhaftung‘ von Luzia Tschirky

Die Tagesschau kennt sehr wohl den Unterschied zwischen einer Verhaftung aufgrund eines richterlichen Haftbefehls und einer zeitweiligen Festnahme durch die Polizei. Gerade deshalb hat SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky nie von einer Verhaftung gesprochen. Die Presseakkreditierung wurde nicht von Beginn an kontrolliert, obwohl die Korrespondentin sie den Mitarbeitern der Sondereinheiten und der Polizei vorweisen konnte. Dies belegt das ausgestrahlte Bildmaterial. Eine Personenkontrolle kann auf der Strasse durchgeführt werden und erfordert keine zeitweise Mitnahme in einen verriegelten Kastenwagen. Die Akkreditierung beim russischen Aussenministerium erlaubt die berufliche Ausübung auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation, sofern es sich nicht um Grenzgebiete oder durch die Armee kontrolliertes Gebiet handelt. Für die Ausübung des Korrespondentenberufs ist kein ‚roter Teppich‘ nötig, notwendig ist jedoch Bewegungsfreiheit, welche man Luzia Tschirky zeitweise durch die Sondereinheiten der Polizei entzogen hat, was im Beitrag und im Gespräch transparent aufgezeigt wird.

Weitere Kritikpunkte

Der Beanstander hat eine klare Meinung zur Person von Alexei Nawalny. Die Person von Alexei Nawalny ist aber nicht Gegenstand der beanstandeten Sendung vom 3. August. Die Tagesschau verweist einfach nochmals auf den Entscheid des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Zudem lösen ‚Delikte‘ wie ‚Aufruf zum Regierungsumsturz‘ oder ‚Aufruhr gegen die Staatsgewalt‘ bei aussenstehenden Beobachtern zu Recht eine gewisse Skepsis aus, da diese angeblichen Delikte oft im Sinne der Behörden missbraucht werden können.

Die Tagesschau versucht in der aktuellen Berichterstattung über die Protestbewegung in Moskau, dem demokratischen Willen von russischen Bürgerinnen und Bürgern eine Stimme zu geben. Die Bezeichnung von Alexei Nawalny als Gallionsfigur in der Moderation ist insofern begründbar, da es sich gemäss Umfragen des unabhängigen Meinungsinstituts Lewada bei Alexei Nawalny um den bekanntesten ausserparlamentarischen Oppositionellen des Landes handelt.

Im Beitrag vom 3. August kommen mehrere russische Staatsbürgerinnen und -bürger zu Wort, die ihre politischen Beweggründe schildern. Korrespondentinnen und Korrespondenten von SRF haben Aufgabe, genau hinzuschauen und darüber zu berichten. Hätte sich Präsident Wladimir Putin zu den Protesten und den Festnahmen am Tag geäussert, hätte dies gemäss den Publizistischen Leitlinien selbstverständlich Eingang in die Berichterstattung gefunden. Der Präsident hat sich erst am 21. August auf Nachfrage einer Journalistin bei seinem Besuch in Frankreich bei Emmanuel Macron zum ersten Mal zu den Protesten geäussert, die Tagesschau hat diesen kurzen Ausschnitt in die Berichterstattung integriert. [8]

Fazit

Die Tagesschau hat am 3. August vertieft und in einem sachlichen Ton über die Festnahmen und Proteste in Moskau vom gleichen Tag berichtet. Korrespondentin Luzia Tschirky hat den Tag mit der Kamera dokumentiert sowie mit einem ausgewiesenen Experten und im live-Gespräch mit dem Moderator die Geschehnisse eingeordnet.
Das Publikum konnte sich jederzeit und unvoreingenommen eine Meinung bilden.
Ich bitte Sie, die Beanstandung in diesem Sinne zu beantworten.

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Auf Ihre stark durch russische Propaganda beeinflusste Einschätzung der Person Nawalnys und der Tätigkeit der SRF-Korrespondenten in Moskau gehe ich nicht ein. Ich äußere mich nur zu Ihren konkreten Vorwürfen gegen die Sendung. Sie kritisieren:

  1. Es sei nicht offengelegt worden, dass eine Demonstration bewilligt war, aber nicht in der Innenstadt;
  2. Es werde verschwiegen, dass SRF durch die Parteinahme für die Demonstranten mit Kriminellen zusammenarbeite;
  3. Es sei nicht darüber informiert worden, welche und wie viele Kandidierende für die Lokalwahlen abgelehnt und zugelassen worden seien;
  4. Der von SRF befragte Experte sei im Themenbereich gar nicht kompetent, da seine Forschung anderswo liege;
  5. Es werde vorgegaukelt, als sei die Korrespondentin Luzia Tschirky verhaftet worden, dabei sei wahrscheinlich bloß eine Personenkontrolle durchgeführt worden.

Zu 1) Es ist richtig, dass die Bewilligung für eine Demonstration an diesem Tag erteilt wurde, aber nur für den Prospekt Akademia Sacharow. Dieser liegt weit draußen, am Rand der Kernstadt, in der Nähe der Metro-Station Sretenskij Boulevard (сретенский булвар), am Kreuzpunkt der Linien 1, 6 und 10.

Die Behörden wollen, dass die Demonstrationen möglichst wenig Medienaufmerksamkeit erregen, und dieses Ziel ist erreicht, wenn sie aus dem Zentrum verbannt werden können. Die Opposition will umgekehrt durch Sichtbarkeit im Zentrum Medienaufmerksamkeit erregen. Im Beitrag hätte darauf hingewiesen werden müssen, dass die Kundgebung im Zentrum nicht bewilligt war. Ich habe dies schon mal moniert (Fall Nr. 5114, Schlussbericht vom 28. Juli 2017).[9]

Zu 2) Die Journalistinnen und Journalisten nehmen nicht Partei für die Demonstranten, sondern allenfalls für das Demonstrationsrecht, das ein Grundrecht ist. Wenn die russischen Behörden die führenden Oppositionellen kriminalisieren, kann dies bloß aus dieser Sicht eine Zusammenarbeit mit Kriminellen sein, nicht aus neutraler Sicht.

Zu 3) Es kann nicht Aufgabe eines kurzen «Tagesschau»-Beitrags sein, jedes Mal alle Gruppierungen der Opposition aufzuzeigen und dabei noch anzugeben, welche Kandidaturen bewilligt worden sind und welche nicht. Dass Fernsehen SRF auch anderen Oppositionellen als Nawalny Aufmerksamkeit widmet, darauf hat Herr Lustenberger hingewiesen.

Zu 4) Der Soziologe Mischa Gabowitsch ist entgegen Ihrer Annahme durchaus auch ein Spezialist der russischen Opposition. Er forscht darüber und weist das auf einer separaten Website aus.[10] Er ist also kein angemasster Experte.

Zu 5) Es ist völlig unerheblich, ob die Journalistin Luzia Tschirky verhaftet oder im Polizeiwagen nur kurz kontrolliert worden ist. Beides geht nicht: Die Pressefreiheit ist ein zentrales Grundrecht, und zu diesem Grundrecht gehört das Recht, auch über Demonstrationen frei und unbehelligt berichten zu können. Auch gegen eine vorübergehende «Ausschaltung» ist Protest zu erheben, was ich hiermit nachträglich tue.

Journalistinnen und Journalisten machen sich im Sinne von Hanns-Joachim Friedrichs «mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten». Eine Ausnahme aber gibt es: Sie machen sich gemein mit den Menschenrechten. Der Anerkennung eines Wahlergebnisses geht das Bekenntnis zu den Grundrechten vor, also das Engagement für das Demonstrationsrecht und für die Pressefreiheit.

Insgesamt war der Beitrag der «Tagesschau» sachgerecht. Gleichzeitig war es nicht richtig zu sagen, die Polizei wolle «keinerlei Demonstrationen für faire Lokalwahlen». Sie wollte sie aber anderswo. Und deshalb hätte erwähnt werden müssen, dass die geplante Demonstration in der Innenstadt nicht bewilligt war. Aus diesem Grund halte ich Ihre Beanstandung für teilweise berechtigt.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüssen,
Roger Blum, Ombudsmann

[1] https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/tagesschau-vom-03-08-2019-1930?id=90523837-3419-4a0f-81b8-500ec6286aaf

[2] https://www.einsteinforum.de/

[3] http://gabowitsch.net

[4] https://twitter.com/msvetov/status/1156149435144912897

[5] https://hudoc.echr.coe.int/eng-press#{%22itemid%22:[%22003-6252011-8134836%22

[6] https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/russische-aktivisten-lassen-sich-nicht-einschuechtern?id=a673560c-1ba2-49bf-9859-ac1334ebe7eb

[7] https://www.dekoder.org/de/person/mischa-gabowitsch

[8] https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/macron-trifft-putin?id=07770bd7-dc55-42d0-b987-0fd7d801a60d

https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/kaum-freiraum-fuer-opposition-in-russland?id=b07d6d73-a6b1-4f5e-b88d-3ad107ae32f8

[9] https://www.srgd.ch/de/aktuelles/news/2017/07/28/bericht-auf-srf-news-online-uber-demonstrationen-moskau-beanstandet/

[10] http://protestrussia.net/

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