«Tagesschau»-Beitrag «Wahlen in Thüringen: Jubel bei AfD und der Linken» beanstandet

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Mit Ihrer E-Mail vom 28. Oktober 2019 beanstandeten Sie die Sendung «Tagesschau» (Fernsehen SRF) vom 27. Oktober 2019 und dort den Beitrag «Wahlen in Thüringen: Jubel bei AfD und der Linken».[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann daher darauf eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

«Die AfD wurde nicht von den alten Männern gewählt, sondern von den jungen. Das sind Fakenews.»

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die «Tagesschau» äußerten sich Frau Regula Messerli, Redaktionsleiterin, und Frau Corinne Stöckli, Fachspezialistin SRF:

«Herr X beanstandet unsere Berichterstattung zu den Wahlen in Thüringen in der Hauptausgabe der Tagesschau vom 27. Oktober 2019. Die Berichterstattung setzte sich aus zwei Teilen zusammen: Zuerst haben wir in einem Beitrag über die Prognosen der Wahlen berichtet. Darauf folgte eine Einschätzung unserer Korrespondentin aus Berlin.

Die Kritik des Beanstanders bezieht sich auf folgende Aussage unserer Korrespondentin, mit der sie den Erfolg der AfD in Thüringen erklärte:

Bettina Ramseier, Korrespondentin SRF, Berlin:
<Die AfD und insbesondere ihr Spitzen-Mann Björn Höcke trifft in Thüringen einen Nerv. Ein Fünftel haben in diesem Bundesland eine rechtsextreme Einstellung, das zeigen Untersuchungen. Und viele fühlen sich noch immer von der Wende enttäuscht und seither benachteiligt. Beides Themen, die die AfD im Wahlkampf sehr gezielt gepflegt hat. Und dann hilft der AfD die Bevölkerungsstruktur. Aus keinem anderen Bundesland sind so viele Menschen seit der Wende abgewandert. Insbesondere Frauen sind gegangen, insbesondere Junge sind gegangen. Und AfD-Wähler sind in der Tendenz ältere Männer.>

Der Beanstander meint dazu: <Die AfD wurde nicht von den alten Männern gewählt, sondern von den jungen. Das sind Fakenews.> Damit sind wir nicht einverstanden und nehmen im Folgenden gerne Stellung.

Der Duden definiert ‘Fake News’ wie folgt:

<In den Medien und im Internet, besonders in den Social Media, in manipulativer Absicht verbreitete Falschmeldungen.>

Fake News werden also in manipulativer Absicht verbreitet, oftmals zur gezielten Desinformation. Dieser Vorwurf wiegt schwer und entbehrt jeder Grundlage. SRF orientiert sich an höchsten publizistischen Standards und das Publikum kann sich auf unsere Integrität verlassen: Wir hegen niemals manipulative Absichten.

Umgekehrt kann es trotz höchster Qualitätsstandards vorkommen, dass uns ein inhaltlicher Fehler unterläuft. Im konkreten Fall sind wir der Meinung, dass die beanstandete Aussage <AfD-Wähler sind in der Tendenz ältere Männer> zwar aus nachträglicher Sicht eine Verkürzung, aber unter den gegebenen Umständen journalistisch vertretbar war.

Unsere Korrespondentin musste am 27. Oktober Wahlergebnisse analysieren, die erst gerade erschienen sind. Basierend auf vorgängigen Recherchen und mit einem hohen Qualitätsanspruch hat sie das nach bestem Wissen und Gewissen gemacht. In ihrer Aussage hat sie den Wahlerfolg der AfD – soweit so kurz nach den Wahlergebnissen möglich - analysiert und dessen Ursachen beleuchtet. So hat sie in ihrer Aussage verschiedene Gründe aufgezählt, um zu erklären, warum die AfD in Thüringen so viele Stimmen geholt hat:

  1. Ein Fünftel der Bevölkerung in Thüringen hat eine ‘rechtsextreme Einstellung’.
  2. Viele fühlen sich noch immer von der ‘Wende’ enttäuscht und benachteiligt.
  3. Die ‘Bevölkerungsstruktur hilft der AfD’; insbesondere Frauen und Junge sind abgewandert.

Beim letzten der drei Gründe fügt die Korrespondentin an <Und AfD-Wähler sind in der Tendenz ältere Männer.>

Unbestritten ist, dass AfD-Wähler in der Tendenz Männer sind. In Thüringen haben beispielsweise nur 17 Prozent der Frauen AfD gewählt, aber 28 Prozent der Männer.

Unbestritten ist auch, dass die Bevölkerungsstruktur in Thüringen der AfD zusätzlich hilft. Überalterung und Männerüberhang in Thüringen sind ein Fakt. Ebenfalls belegt ist, dass diese beiden Faktoren zu radikaleren politischen Einstellungen führen. Das ist in verschiedenen neuen Bundesländern zu beobachten und wird von einer aktuellen Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) vom September 2019 bestätigt:[2]

<...hohe Abwanderung, alternde Bevölkerung, hohe Überhänge von Männern im jungen und mittleren Erwachsenenalter. Das Beispiel Thüringen zeigt, dass diese demografische Homogenität (...) subjektiv empfundene Benachteiligung und Abstiegsängste erzeugt. Das fördert intolerante und demokratieskeptische Einstellungen in ländlichen Regionen.>

Unsere Aussage <Und dann hilft der AfD die Bevölkerungsstruktur. Aus keinem anderen Bundesland sind so viele Menschen seit der Wende abgewandert. Insbesondere Frauen sind gegangen, insbesondere Junge sind gegangen.> war also korrekt.

Der Beanstander meint nun, dass es nicht die ‘älteren Männer’, sondern die ‘jungen Männer’ gewesen seien, welche die AfD gewählt haben. Das sehen wir basierend auf der Bevölkerungsstruktur Thüringens anders: Rund 600'000 Menschen in Thüringen sind zwischen 18 und 45 Jahre alt (Vgl. Statistisches Jahrbuch Thüringen 2018, S. 53 ff.) [3] Doppelt so viele, also rund 1.2 Mio. Menschen, sind 45 Jahre und älter. Von den 45-59jährigen Männern haben 33 Prozent AfD gewählt, bei den 60-69jährigen Männer sind es 25 Prozent. Diese beiden Bevölkerungsgruppen (‘ältere Männer’) sind in absoluten Zahlen die grössten in Thüringen und daher wahlentscheidend.

Anzumerken zur Grafik oben ist, dass zwar auch ein grosser Teil der unter 44jährigen Männer die AfD gewählt hat – aber die oben erwähnte Altersstruktur macht deutlich, dass es von diesen deutlich weniger gibt in Thüringen. Deshalb greift unseres Erachtens auch die Einschätzung verschiedener Medien zu kurz, dass der Erfolg der AfD im Osten vor allem auf den Jungen gründe. Die obige Analyse lag unserer Korrespondentin zum Zeitpunkt der Live-Schaltung nicht vor und war so auch nicht vorhersehbar. Nicht zuletzt auch, weil nach dem Kenntnisstand der Europawahl die Kernwähler der AfD die 45-59jährigen Männer waren (vgl. dazu z.B. ‘Die Welt’ [4] ).

Aufgrund obiger Ausführungen räumen wir zwar ein, dass die Formulierung <AfD-Wähler sind in der Tendenz ältere Männer> eine formatbedingte Verkürzung war. Präziser wäre gewesen: <AfD-Wähler sind in der Tendenz Männer. Ausserdem führt die Bevölkerungsstruktur in Thüringen (Überalterung und Männerüberhang) zu grundsätzlich radikalerem Wahlverhalten über alle Altersgruppen hinweg.> Wir sind aber der Meinung, dass die gewählte Formulierung unter den gegebenen Umständen journalistisch vertretbar war.

Wir bitten Sie, die Beanstandung entsprechend zu beurteilen und dabei auch den zeitlichen Druck und die grundsätzlich differenzierte Einschätzung der Journalistin miteinzubeziehen.»

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Ich war auch erstaunt, als ich am Tag nach den Wahlen in Thüringen in der «Süddeutschen Zeitung» eine Balkengrafik der Forschungsgruppe Wahlen vorfand: Nach dieser Grafik wird beispielsweise die Linke vor allem von Alten, mehr von Frauen als von Männern, von Arbeitern und Angestellten und stark von Akademikern gewählt. Der AfD hingegen fliessen gemäß dieser Grafik Stimmen von den Jüngeren, von Männern mehr als von Frauen, von Arbeitern und Selbständigen und von solchen mit Hauptschulabschluss und mittlerer Reife zu. Das entsprach nicht durchweg dem Bild, das man bisher hatte. Doch übersah man leicht, dass in dieser Grafik jede Altersgruppe (und jedes Geschlecht, jede Berufsgruppe, jeder Bildungsabschluss) als 100 Prozent gesetzt wurde, unabhängig von der zahlenmäßigen Grösse. Wenn wir beispielsweise die drei stärksten Parteien in Thüringen nehmen, die Linke, die AfD und die CDU, dann sieht das so aus:

Gewählt haben in Thüringen

Altersgruppen

Linke

AfD

CDU

Unter 30jährige

22 %

24%

13%

30-44jährige

22 %

28%

22%

45-59jährige

27 %

28 %

22 %

Über 60jährige

40 %

16 %

24 %

Das bedeutet: 24 Prozent der Altersgruppe unter 30 haben AfD gewählt. 40 Prozent der Altersgruppe über 60 haben die Linke gewählt. Nun spielt natürlich eine entscheidende Rolle, wie groß die jeweiligen Altersgruppen sind. Wenn – wie die Redaktion gestützt auf die amtliche Statistik darlegt – die Gruppe der Älteren praktisch doppelt so groß ist wie die Gruppe der Jüngeren, dann sieht die Sache natürlich anders aus. Wenn es 200 Personen unter 45 gibt, aber 400 Personen über 45, dann wählten 54 (25 + 29) Jüngere die AfD, aber 88 (56 + 32) Ältere. Das heißt: Geht man von den Altersgruppen aus, dann wählen mehr Jüngere AfD als CDU oder die Linke. Geht man aber von der AfD aus, dann ist der Anteil der Älteren größer als jener der Jüngeren.[5]

Insofern war also die Aussage der Deutschland-Korrespondentin Bettina Ramseier überhaupt nicht falsch, im Gegenteil: sie stimmte, obschon ihr die Auswertungen der Wahlanalytiker zum Zeitpunkt der «Tagesschau» noch gar nicht vorlagen.

Wenn wir uns nun noch den Beitrag insgesamt angucken, dann war er klassisch aufgebaut: Zuerst wurden die Ergebnisse vermittelt – in der Form einer Balkengrafik aufgrund der ARD-Prognose. Dann wurden die Parteien präsentiert – die Linke mit Ministerpräsident Bodo Ramelow, die CDU mit Spitzenkandidat Mike Mohring und die AfD mit dem Landesvorsitzenden Björn Höcke -, und danach folgte der träfe einordnende Kommentar von Bettina Ramseier zum Erfolg der AfD und zu den Schwierigkeiten der Regierungsbildung. Ich sehe keinen Verstoß gegen das Sachgerechtigkeitsgebot und kann deshalb Ihre Beanstandung nicht unterstützen.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüssen,
Roger Blum, Ombudsmann

[1] https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/wahlen-in-thueringen-jubel-bei-afd-und-der-linken?id=e07f4e5a-7dbd-469f-9f48-303c9f42bfd5

[2] https://wzb.eu/system/files/docs/sv/iuk/002-Artikel-Salomo.pdf

[3]https://www.destatis.de/GPStatistik/servlets/MCRFileNodeServlet/THHeft_derivate_00007594/40101_2018_00.pdf;jsessionid=94D11BBDC78D6A454E05F6FAFC0195F8

[4] https://www.welt.de/politik/deutschland/article194198267/Europawahl-2019-Wer-waehlte-wen-nach-Alter-Beruf-Geschlecht.html

[5] https://www.forschungsgruppe.de/Wahlen/Grafiken_zu_aktuellen_Wahlen/Wahlen_2019/Thueringen_2019/

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