«Die Taten faszinieren mich nicht»
Frank Urbaniok ist forensischer Psychiater, war bis 2018 Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich und hat den Schweizer Justizvollzug revolutioniert. Im Interview erklärt er, warum uns Krimis so fesseln – und ob er selber noch Mord in Serien anschauen mag.
Herr Urbaniok, Roger Schawinski nannte Sie einmal «den bekanntesten Psychiater der Schweiz». Sind Sie das?
Das können andere besser beurteilen. Aber es ist sicher so, dass ich nun seit vielen Jahren stark in der Öffentlichkeit stehe.
Sie arbeiten seit fast 30 Jahren als forensischer Psychiater und Gutachter und sehen durch Ihre Arbeit in die tiefsten menschlichen Abgründe. Glauben Sie überhaupt noch an das Gute im Menschen?
Mit den Kategorien Gut und Böse operiere ich persönlich nicht. Ich bin da ein puristischer Pragmatiker: Mich interessiert das Risiko einer Person und was man tun kann, um dieses Risiko zu verringern. Ich mag lieber handfeste, konkrete Dinge: Eine genaue Risikokalkulation, die Beurteilung der Therapiefähigkeit, mögliche risikosenkende Massnahmen, vor allem mit dem Ziel, Opfer zu verhindern. Man hört ja auch oft, jeder Mensch sei ein potenzieller Mörder, das wird beispielsweise auch in Filmen oder Serien oft so dargestellt. Ich halte das für komplett falsch.
Warum?
Die meisten Menschen, mit denen ich zu tun habe und hatte, unterscheiden sich diametral von Ihnen oder von mir, da gibt es wirklich fundamentale Unterschiede, keine feinen, zufälligen Grenzen. Gerade in der kulturellen Aufarbeitung von Straftaten wird diese Sachlage sehr vernachlässigt. Manchmal wird das fast schon so dargestellt, als ob man durch Zufall zum Mörder wird. Und das stimmt einfach nicht. Die meisten Taten, die Menschen, die ich behandle, begangen haben, würden Sie nie in ihrem Leben begehen – egal, in welcher Lebenssituation oder unter welchen sozialen Umständen Sie sich befinden.
Abgesehen davon: Welche Unterschiede bezüglich Motivation stellen Sie bei Tätern fest?
Es gibt Persönlichkeitstäter und Situationstäter. Erstere haben bestimmte Eigenschaften, zum Beispiel eine sehr hohe Gewaltbereitschaft oder Lust am Töten und Quälen, die sie zum Täter disponieren – diese Eigenschaften hat man, oder man hat sie nicht. Die meisten Gewalt- und Sexualstraftaten, die in unseren Breitengraden geschehen, werden durch solche Persönlichkeitstäter begangen. Der zweite Typ sind Menschen, die keine solchen persönlichen Eigenschaften haben, aber unter bestimmten Bedingungen trotzdem Straftaten begehen. Nämlich dann, wenn die Situation um sie herum hochspezifisch ist.
Können Sie ein Beispiel machen?
Etwa Täter, die sich in totalitären Systemen plötzlich menschenverachtend verhalten. Bekannte Beispiele dafür sind KZ-Wärter im Nationalsozialismus oder die hohe Anzahl Leute, die in der DDR mit der Stasi kooperiert haben. Oder auch die Situation während der Jugoslawienkriege, als es plötzlich legal war, Frauen zu vergewaltigen – und viele Männer haben das dann auch getan. Diese Taten sind nicht weniger schlimm als Taten von Persönlichkeitstätern, aber es steckt ein anderer Mechanismus dahinter. Klassisch für Situationstäter ist auch, dass sie ihr kriminelles Verhalten ablegen, sobald sich die Situation um sie herum verändert: Der KZ-Wärter etwa wird nach Kriegsende wieder zum fürsorglichen Familienvater, der einem normalen Beruf nachgeht.
Stumpft man als forensischer Psychiater mit der Zeit eigentlich ab?
Um ehrlich zu sein: Ich würde nie behaupten, dass mich diese Arbeit nicht geprägt hat. Wenn ich einen Fall beurteile, dann hänge ich mich voll rein und gebe nicht eher Ruhe, bis ich glaube, ihn in all seinen Einzelheiten verstanden zu haben. Aber ich habe mir über die Jahre schon gewisse Mechanismen antrainiert, die mir ermöglichen, mich etwas davon zu distanzieren. Das kann man vielleicht mit der Arbeit eines Chirurgen vergleichen, der sich ganz und gar auf sein Handwerk konzentriert. Ich finde den Ausgleich zum Beispiel im Sport, ich lese viel und interessiere mich für Themen wie Philosophie, Politik oder Geschichte. Ich schaue gerne Dokumentarfilme und lese historische Biografien. Und privat kenne ich zum Glück viele Menschen, die gar nichts mit Straftaten zu tun haben, mein Umfeld hat nichts mit meinem Job zu tun. Diese Gespräche drehen sich dann um ganz normale, menschliche Dinge – das tut sehr gut und ist auch wichtig.
Schauen Sie selber überhaupt Krimis?
Ganz wenig. Ich bin überhaupt kein passionierter Krimischauer und das hat sicher auch mit der Übersättigung durch meine Arbeit zu tun. Ich sehe da so viele Straftaten, da fällt es mir schwer, mir auch noch in meiner Freizeit einen Mord anzuschauen. Ab und zu schaue ich mir aber einen «Tatort» an.
Worauf achten Sie dann?
Ich schaue oft eher darauf, wie die Charaktere gezeichnet sind, gar nicht so sehr auf die Straftaten. Das Münster-Team gefällt mir zum Beispiel gut. Dann stört es mich auch nicht, wenn die Geschichten teilweise absurd sind.
Sind die Straftaten in Krimiserien wie dem «Tatort» denn unrealistisch dargestellt?
Ich finde, sie müssen gar nicht total realistisch dargestellt werden. Film und Fernsehen sind ein ganz anderes Spielfeld als die Realität. Mich stört nicht, wenn dort etwas gezeigt wird, das in der Realität so nie passieren würde. Bei einem Märchen stört man sich ja auch nicht daran, dass die Fee zaubern kann. Bei mir ist es eher so, dass mich eine schlechte, durchschaubare Dramaturgie langweilt.
Warum haben wir eine so starke Faszination für Straftaten?
Ich glaube, das hat viel mit einer so genannten evolutionären Prägung zu tun. Viele unserer Verhaltensweisen und Mechanismen wurden über Millionen von Jahren geprägt und getaktet. Aus dieser Perspektive ist es sehr sinnvoll, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf das Gefährliche setzen – damit wir uns davor schützen und eine erneute Tat allenfalls verhindern können. Unsere Vorfahren wurden ja ab und zu von wilden Tieren gefressen, das haben sich die Familienmitglieder wohl sehr genau angeschaut – obwohl es etwas Grauenhaftes ist –, um zu lernen, wie sie sich in einer solchen Situation verhalten müssen, um sich zu retten. Ich selber bin übrigens überhaupt nicht fasziniert von den Taten.
Die erwähnte Serie wurde dafür kritisiert, dass sie einen brutalen Serienmörder derart in den Fokus stellt, ihn teilweise fast sympathisch wirken lässt. Ein Vorwurf, den Sie sich auch immer wieder anhören müssen: Ihr Behandlungsmodell fokussiert ebenfalls auf den Täter und seine Beweggründe.
Man muss einen Täter genau verstehen, um seine Risiken einschätzen zu können. Wenn ich weiss, warum er eine Tat begangen hat, weiss ich in den allermeisten Fällen auch, was er braucht, damit er sie nicht noch einmal begeht. Ich sehe das ganz klar als praktischen Opferschutz und nicht als Faszination für den Täter.
Ich als Frau sollte eigentlich Angst haben vor Männern wie Ted Bundy – er brachte ausschliesslich Frauen um, war ein klassischer Triebtäter – aber ich bin trotzdem fasziniert von ihm. Und unzählige Frauen schickten ihm Liebesbriefe ins Gefängnis. Warum?
Es gibt Triebtäter, die sehr manipulativ und charmant sein können – das trifft natürlich längst nicht auf alle zu, ich könnte Ihnen genügend Beispiele zeigen, von denen Sie sich sofort mit Grausen abwenden würden. Täter, die stark in der Öffentlichkeit stehen, haben aber oft diese Seite als zusätzlichen Punkt in ihrem Profil. Manche Frauen funktionieren so: Je gefährlicher, je abschreckender ein Mann ist, umso höher ist der Preis dafür, dass sie diejenige ist, die ihn bändigen kann. Das bedient wohl auch etwas letztlich Archaisches. Und dann spielt auch eine Rolle, dass diese Frauen im Grunde einen starken Beschützer wollen – oft ganz unterbewusst. Einen, der so stark ist, dass er andere vernichten kann. Urtriebe und Urbedürfnisse kommen da ins Spiel.
Sprich: Wenn ich als einzige Frau diesen Typen retten kann, dann beschützt er mich dafür ein Leben lang?
Genau, dann haben Sie eine Absicherung. Was im Grunde betrachtet ein Paradox ist: Wenn Sie ihn wirklich retten, dann sollte er ja seine Gefährlichkeit verlieren. Das höre ich übrigens oft von Frauen, die eine Beziehung mit Straftätern haben: «Ich will nicht, dass er nochmals straffällig wird, aber wenn mich jemand anpöbelt, dann will ich schon, dass er den vermöbelt!». Das gibt es wirklich. Und das ist auch eine Schwierigkeit für diese Männer.
Eine Straftat, die die Schweiz in Atem hielt, war der Vierfachmord in Rupperswil. Dort wurde immer wieder die teilweise sensationsgeile Berichterstattung kritisiert. Gibt es eine Wechselwirkung zwischen Medien, Justiz und Kriminalität?
Das ist eine wichtige Frage. Ich glaube, gerade in der Schweiz sehen es Richterinnen und Richter als Teil ihres Selbstverständnisses an, sich nicht von der Berichterstattung über einen Fall beeinflussen zu lassen und sich sehr stark als unabhängige Instanz zu positionieren. Viel kritischer ist der Punkt, inwiefern es eine Wechselwirkung von Medien und Kriminalität gibt. Wir wissen, dass es Nachahmungstäter gibt, gerade bei Massenmördern und Amokläufern. Meistens ist es zwar nicht so, dass Leute auf die Idee kommen, einen Anschlag zu begehen, nur weil sie einen Artikel darüber lesen. Aber auf Menschen, die sich per se schon damit beschäftigen, kann die Berichterstattung durchaus eine triggernde Wirkung haben. Das war beispielsweise auch beim Täter des Zuger Attentats von 2001 so: Er hatte schon vor der Berichterstattung über 9/11 mit dem Gedanken gespielt, aber der Anlass und die Berichterstattung darüber waren für ihn definitiv ein Wendepunkt. Ich glaube, es ist den Medienschaffenden oft nicht so bewusst, was sie mit ihrer Arbeit bei bestimmten Personen auslösen können.
Frank Urbaniok ist Professor für forensische Psychiatrie. Er wurde 1962 in Köln geboren und wuchs in Düsseldorf auf. Er studierte in Münster und Düsseldorf Medizin und spezialisierte sich auf die Behandlung und Begutachtung von Straftätern. 1997 wurde er Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes (PPD) im Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich. 2018 trat er von seinem Amt als Chefarzt zurück. Heute ist er als selbständiger Gutachter, Supervisor und Berater tätig.
Kommentar