«Rundschau»-Beitrag «Vom Schmerz in die Sucht» beanstandet
6182
Mit Ihrer E-Mail vom 6. November 2019 beanstandeten Sie die Sendung «Rundschau» (Fernsehen SRF) vom 30. Oktober 2019 und dort den Beitrag «Vom Schmerz in die Sucht».[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann daher darauf eintreten.
A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:
«Der Beitrag über Oxycodon ist reisserisch und sehr schlecht recherchiert. Der Moderator Herr Dominik Meier stellt unwahre Behauptungen auf und vergleicht Strausseneier mit Taubeneier (USA mit der Schweiz). Die tragische Situation in den USA entstand durch eine leichtfertige und missbräuchliche Verschreibungspraxis. Oxycodon wird in den USA auch zur Behandlung mässiger Schmerzen z.B. bei Zahnschmerzen verordnet. Zudem können sich Patienten in Arztpraxen nach einem oft nur oberflächlichen Gesundheitscheck ihr Oxycodon abholen. Nicht wenige von ihnen verkaufen die Substanzen dann auf der Strasse weiter. Es sind also bereits Drogenabhängige die sich Oxycodon auf diese Weise beschaffen. Um einen schnellen Kick zu bekommen werden Retardtabletten gemörsert eingenommen oder der Wirkstoff wird verflüssigt und in die Venen gespritzt, was zu einer Überdosis und zu den vielen Todesfällen führt. In der Schweiz ist die Situation eine ganz andere. Hierzulande untersteht Oxycodon dem Betäubungsmittelgesetz und wird von verantwortungsbewussten Ärzten und Kliniken nur bei stärksten Schmerzen verschrieben. Zudem wird bei uns Oxycodon als Retardtabletten meist zusammen mit dem Opioidantagonisten Naloxon als Kombinationspräparat zur oralen Einnahme verschrieben. Diese agonistisch-antagonistisch wirkende Kombination, soll hauptsächlich der von Opioiden verursachten Verstopfung entgegenwirken. Zudem kann der Naloxon-Anteil, die missbräuchliche Verwendung speziell durch Drogenabhängige verhindern. Für Patienten mit unerträglich starken anhaltenden Schmerzen, bei denen kein anderes Medikament oder Therapie eine Linderung verschaffen kann, ist Oxycodon ein Segen! Bei korrekter Anwendung und Dosierung besteht, entgegen der Behauptung von Herrn Dominik Meier, keine Suchtgefahr. Es ist schade, dass durch solch unprofessionelle und diletantische Sendungen die Angst vor Opioiden geschürt wird.»
B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die «Rundschau» äußerte sich deren Redaktionsleiter, Herr Mario Poletti:
„Gerne nehmen wir Stellung zur Beanstandung von Herrn X.
Einleitung
Wir haben einige Feedbacks auf diesen Beitrag erhalten, auch von Schmerzpatienten. Viele meldeten uns zurück, sie seien froh, dass dieses wichtige Thema um das hohe Suchtpotential endlich aufgegriffen wurde. Andere fragten, was denn die Alternativen zu den Opioiden wären. Fakt ist: Laut den Zahlen steigt der Oxycodon-Bedarf in der Schweiz stetig und nennenswert an. Es handelt sich um ein Opioid, das unbestritten ein hohes Suchtrisiko aufweist. Das bestätigen einerseits die Erfahrungen aus den USA, die Praxis der Schweizer Ärzte, steht aber andererseits auch auf den Packungsbeilagen.
Die Vorwürfe und unsere Stellungnahme
Der Beanstander empfand die Berichterstattung als reisserisch und schlecht recherchiert. Zudem sind einzelne Aussagen für ihn ‚unwahr‘. Der Beanstander kritisiert ausdrücklich die Anmoderation, lässt aber offen, ob er sich auch auf den darauffolgenden Beitrag bezieht. Wir beziehen uns im weiteren Verlauf sowohl auf die Anmoderation als auch auf den Beitrag. Diese bilden schliesslich eine Einheit.
Inhaltlich kritisiert der Beanstander zunächst, dass der Beitrag ‚Strausseneier mit Taubeneiern‘ vergleiche – ihn stört der Vergleich zwischen der Situation in den USA und derjenigen in der Schweiz. Allerdings wurde in der Anmoderation wie auch im Beitrag deutlich erwähnt, dass man die Situation in der Schweiz nicht mit den USA vergleichen könne. Anlass zu unserer Berichterstattung gab aber die Tatsache, dass hierzulande der Verbrauch des umstrittenen Wirkstoffes Oxycodon deutlich gestiegen ist. Im Beitrag erklärten mehrere Ärzte, dass es auch in der Schweiz und trotz strikterer Verschreibungspraxis ein Umdenken in Bezug auf Opioide wie Oxycodon brauche: Dies kam im Beitrag klar heraus. Einerseits spricht der Hausarzt vom Dilemma, wie chronische Schmerzpatienten zu behandeln seien. Anderseits sagt auch der Präsident der Swissmedic-Experten-Kommission, dass Opioide durchaus gute Medikamente sein können, wenn man sie eben richtig einsetze. Gleichzeitig erwähnt er auch, dass die Ärzte bzw. die Fachgesellschaften noch mehr Anstrengungen machen müssten, um noch besser zu informieren – gerade, weil der Opioid-Einsatz so umstritten ist. Ein Umdenken, das offenbar allmählich stattfindet: So empfehlen die Rheumatologen seit Neuestem bei chronischen Rückenleiden das Medikament nicht mehr zu verschreiben. Auch dies kommt im Beitrag vor.
Der Beanstander unterstreicht, dass Oxycodon hierzulande streng kontrolliert sei, nur bei stärksten Schmerzen abgegeben werde und meist als Kombipräparat verschrieben werde. Sämtliche dieser drei Punkte kommen in unserem Beitrag zur Sprache. Allerdings machen die Interviews mit dem Hausarzt, dem Klinikarzt und dem Präsidenten der Swissmedic-Experten-Kommission auch klar, dass die Krux die Abgrenzung ist: in welchen Fällen also die Abgabe angezeigt ist und in welchen eben nicht. Es wurde in den Interviews auch deutlich, dass diese Abgrenzung nicht einfach ist und Opioide wie Oxycodon in manchen Konstellationen wahrscheinlich zu leichtfertig abgegeben werden.
Schliesslich erklärt der Beanstander, dass Oxycodon bei bestimmten Patienten ‚ein Segen‘ sei und bei korrekter Anwendung keine Suchtgefahr bestehe. Dem ersten Teil der Aussage stimmen wir vollumfänglich zu und verweisen darauf, dass dies auch aus unserem Beitrag klar hervorgeht. Dass hingegen die Gefahr einer Abhängigkeit besteht, lässt sich nicht wegdiskutieren. Dies machten die drei erwähnten Ärzte im Interview deutlich – zudem warnen die Hersteller selbst in den Packungsbeilagen ausdrücklich vor dieser Gefahr. Als (willkürliches) Beispiel hier ein Auszug aus der Packungsbeilage des Medikaments ‚OXYCODON Streuli Ret Tabl 5 mg‘:
<Bei längerfristiger Einnahme von Oxycodon Streuli kann es zu einer Gewöhnung kommen. Das bedeutet, dass Sie möglicherweise für die erwünschte schmerzlindernde Wirkung eine höhere Dosis benötigen.
Die längerfristige Einnahme von Oxycodon Streuli kann ausserdem zu körperlicher Abhängigkeit führen. Bei abrupter Beendigung der Therapie können Entzugssymptome wie Unruhe, Schweissausbrüche und Muskelschmerzen auftreten. Wenn Sie die Therapie nicht mehr benötigen, sollten Sie die Tagesdosis nach Rücksprache mit Ihrem Arzt schrittweise reduzieren.
Der Wirkstoff Oxycodon hat ein Missbrauchspotential ähnlich wie alle anderen starken morphinähnlichen Schmerzmittel. Die Entwicklung einer psychischen Abhängigkeit ist möglich. Bei bestehendem oder früherem Alkohol-, Drogen- oder Arzneimittelmissbrauch sollte die Einnahme von Oxycodon Streuli vermieden werden.>
Fazit
Zusammenfassend können wir die Argumentation des Beanstanders in keinem Punkt nachvollziehen. Das Thema wurde breit und kontrovers sowie transparent aufgearbeitet, so dass sich das Publikum jederzeit eine eigene Meinung bilden konnte. Darum bitten wir Sie, sehr geehrter Herr Blum, die Beanstandung abzuweisen.“
C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Wir haben eine Situation, in der Beanstander und Redaktion beide über viel Sachwissen verfügen, aber dieses Wissen vollkommen unterschiedlich interpretieren und anwenden. Sie kennen sich aus, die Journalistin Samira Zingaro kennt sich aus, und trotzdem reden Sie quasi aneinander vorbei. Ich möchte es so beschreiben: Sie sehen, dass das Glas halbvoll ist: Die Schweiz macht es schon gut, sie ist nicht Amerika. Die Redaktion sieht ein halbleeres Glas: Die Schweiz läuft Gefahr, so zu werden wie Amerika. Beide aber sagen: Es bestehen deutliche Unterschiede zwischen der Schweiz und den USA. Da das Medikament immer mehr verschrieben wird, ist indes die Sicht der Redaktion plausibel, und es ist richtig, das Thema zu problematisieren. Das hat die Redaktion getan. Dabei war der Bericht in keiner Weise reisserisch. Im Gegenteil: Es wird ein Fallbeispiel gezeigt, das Problem wird abstrakt beschrieben und dann mit Hilfe von Aussagen verschiedener Mediziner diskutiert. Voilà. Der Beitrag liegt voll im Rahmen des Radio- und Fernsehgesetzes, ich sehe keinerlei Verstoß gegen das Sachgerechtigkeitsgebot. Daraus folgt, dass ich Ihre Beanstandung nicht unterstützen kann.
D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüssen,
Roger Blum, Ombudsmann
[1] https://www.srf.ch/play/tv/rundschau/video/vom-schmerz-in-die-sucht?id=a326781b-0913-4b01-b6af-50969900607b
Kommentar