SRF-Spielfilm «Die letzte Pointe» beanstandet

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Mit Ihrer E-Mail vom 18. Oktober 2019 beanstandeten Sie den am 6. Oktober 2019 im Fernsehen SRF ausgestrahlten Spielfilm «Die letzte Pointe». Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann daher darauf eintreten. Leider erhalten Sie den Schlussbericht verspätet. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Grund dafür ist, dass wir lange nicht wussten, wie wir mit Ihrer Sammel-Beanstandung verfahren und welche Teile davon materiell behandelt werden und eine Stellungnahme der Redaktion bedingen. Die Verspätung schmälert allerdings Ihre Rechte nicht: Die Frist für eine allfällige Beschwerde bei der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) beginnt zu dem Zeitpunkt zu laufen, an dem dieser Schlussbericht in Ihrem Briefkasten liegt.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

«Eindeutige Suiziddarstellung und Anleitung zu Suizid. Implizite Aufforderung an ältere Menschen und Demenzerkrankte sich selber zu töten, weil man der Familie nur noch auf den Geist geht. Verharmlosung von Sterbehilfeorganisationen. Werbung für Waffenhändler in der Stadt Zürich. Pietätsloser Umgang mit Urnen und impliziter Aufruf zu Gewässerverschmutzung durch Asche von verstorbenen. Thema Gaslighting als psychische Folter durch diese Enkelin mit Verkupplungsversuch und für Suizidgrund wurde zu wenig problematisiert!»

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Die Antwort kam von Herrn Thomas Lüthi, Redaktor Bereich Fiction SRF:

«Die Zuschauerin X hat in ihrem Mail vom 18. Oktober unter anderem den Inhalt des Spielfilms ‘Die letzte Pointe’ beanstandet.

Vorauszuschicken ist, dass es sich bei ‘Die letzte Pointe’ um Fiktion handelt. Und in der auf SRF gezeigten Fiktion dürfen Figuren Dinge tun, die manchen Zuschauer*innen moralisch und ethisch verwerflich erscheinen, die Figuren dürfen auch Dinge tun, die illegal sind und dafür straffrei davonkommen - alles im Rahmen des RTVGs natürlich. Bei ‘Die letzte Pointe’ ist das unserer Meinung nach der Fall. Hier die Begründung in Bezug auf die einzelnen Punkte.

‘Eindeutige Suiziddarstellung’

In ‘Die letzte Pointe’ geht es um eine fast 90-jährige Frau, die bei sich Anzeichen von Demenz festzustellen glaubt. Sie möchte deshalb solange sie noch einigermassen bei Sinnen ist, selbstbestimmt aus dem Leben scheiden. Das hält sie aber vorläufig vor ihren Angehörigen geheim. In einem Buch kann der Autor schreiben, was so eine Figur denkt. Filmemacher Rolf Lyssy musste einen anderen Weg gehen. Um zu zeigen, dass seine Figur Gertrud häufig an Suizid denkt, musste er glaubwürdige, eindringliche und erzählerisch effiziente Bilder und Szenen finden. In einer Szene springt Gertrud vom Balkon, in einer zweiten sitzt sie in der vollen Badewanne und lässt einen Föhn ins Wasser fallen. Diese Szenen sind zurückhaltend und undramatisch umgesetzt. So sieht man weder wie Gertrud springt, noch wie sie unten aufprallt. Man sieht bloss die Reaktion der Umstehenden und dann Gertruds Körper aus grosser Distanz. Entscheidend dabei ist, dass sie nicht direkt auf die Strasse springt, sondern einen Passanten unter sich begräbt, diesen ebenfalls tötet - hier gelingt es Lyssy, die möglichen Konsequenzen von dieser Art Suizid zu veranschaulichen, verdeutlicht auch, wieso Gertrud von einem Sprung aus grosser Höhe absieht: Frau könnte Unbeteiligte gefährden. Bei der Föhnszene schliesst Gertrud im Moment des Todes die Augen - als würde sie einschlafen. Die elektrische Reaktion im Wasser wird mit einem leisen Knistern auf der Tonspur verdeutlicht. Das ist alles. Mit diesen beiden Szenen ist glaubwürdig verdeutlicht und beim Zuschauer gesetzt, dass Gertrud an den Freitod denkt. Auf weitere entsprechende veranschaulichte Phantasien verzichtet Lyssy. Der Zuschauer zieht den Schluss selber. So etwa in der Szene als Gertrude in das Schaufenster eines Waffengeschäftes sieht. Da genügt ihr Blick ins Fenster und man weiss was Gertrud denkt.

‘Anleitung zu Suizid’

Gertrud drängt den Vertreter einer Sterbehilfeorganisation dazu, ihr zu zeigen, wie sie sich mit einem Plastiksack und Helium umbringen kann. Nach einigem Drängen seitens Gertrud, macht ihr das der Sterbehelfer vor. Ich kann nachvollziehen, dass sich die Zuschauerin an dieser Szene stört. Doch gilt es den erzählerischen Kontext in Betracht zu ziehen. Hier stand der Regisseur vor derselben Herausforderung wie im letzten Abschnitt geschildert: Wie soll das Innenleben einer Figur nach aussen getragen werden? Es gilt zu erzählen, dass sich Gertrud endgültig entschieden hat, aus dem Leben zu scheiden. Mit oder ohne Unterstützung einer Sterbehilfeorganisation. Sie weiss auch, welche Methode für sie passt. Und um das zu zeigen, auch die Entschlossenheit von Gertrud zu verdeutlichen hat sich Lyssy für diese Szene entschieden, in der ihr der Vertreter der Sterbehilfeorganisation die Suizidmethode vormacht. Dieser rät Gertrud aber eindringlich einen Arzt zu konsultieren und ihre Angehörigen zu informieren.

‘Implizite Aufforderung an ältere Menschen und Demenzerkrankte sich selber zu töten, weil man der Familie nur noch auf den Geist geht’

Diesen Vorwurf können wir nicht nachvollziehen. Gertrud ist eine selbstbestimmte, selbstbewusste Frau, die keine Probleme damit hat, wenn sie ihren Angehörigen und ihrem Umfeld ab und zu auf den Geist geht. Damit scheint auch ihr Umfeld nicht zu hadern. Sie ist weitgehend von sie liebenden, ihr zugeneigten Menschen umgehen: Ihre Enkelin, die immer mal wieder bei ihr im Keller mit ihrer Band probt und sehr mit der Grossmutter verbunden ist. Ihre Tochter, die möchte, dass ihre Mutter wieder bei ihr einzieht. Der zweite Enkel ist eher von selbstsüchtigen Motiven getrieben und ist in den Augen der Zuschauer ein Antagonist, aber einer der harmlosen Art. Seine grosskotzige Art macht ihn nicht sympathisch. Doch auf die Befindlichkeit von Gertrud hat das keine Auswirkungen, steigert schon gar nicht ihren Wunsch, sich umzubringen.

‘Verharmlosung von Sterbehilfeorganisation’

Auch in diesem Punkt sind wir dezidiert anderer Meinung. Lyssy zeichnet diese Organisationen weder zu radikal, noch zu harmlos. Sondern absolut ‘by the book’ und gesetzeskonform: In ‘Die letzte Pointe’ tauchen Vertreter von zwei (fiktiven) Sterbehilfeorganisationen auf. Beide Vertreter bringen Gertruds Vorhaben Skepsis und Ablehnung entgegen: Weil sie körperlich für ihr Alter ausgezeichnet beieinander ist. Beide fordern sie dazu auf, sich das Ganze nochmals zu überlegen. Beide drängen Gertrude dazu, mit einem Arzt und ihrer Familie zu reden. Beide lehnen es ab, Gertrud ihre Dienste zur Verfügung zu stellen. Gertrud wird auch aufgezeigt, dass der zentrale Grund für ihren Suizidwunsch, ihre Demenz auch ein Ausschlusskriterium ist. Dann sei sie nicht mehr urteilsfähig, Sterbehilfe kommt nicht mehr in Frage.

‘Werbung für Waffenhändler in der Stadt Zürich’

Gertrud schaut ins Schaufenster eines Waffengeschäftes. Neben ihr taucht ein Passant auf, der die Auslage beeindruckend findet. Aus zwei Gründen ist es keine Werbung: Der Schriftzug des Geschäftes ist in der Totale nur kurz zu sehen und kaum leserlich. Und die Bemerkung des Passanten ‘schöne Auswahl’ quittiert sie mit einem giftigen Blick. Und wenn schon ist es eher eine abschreckende Szene: Gertrud interessiert sich ja nicht für Waffen, weil sie in den Schützenstand oder auf die Jagd möchte, sondern weil sie sich umbringen möchte.

Pietätsloser Umgang mit Urnen und impliziter Aufruf zu Gewässerverschmutzung durch Asche von Verstorbenen.

Wir verstehen nicht, wie die Zuschauerin hier darauf kommt, dass pietätslos mit einer Urne umgegangen wird. Nachdem Gertrud auf natürliche Weise gestorben und kremiert worden ist, reisen die Hinterbliebenen mit ihrer Urne mit dem Schiff auf dem Rhein gegen Norden. Diese Urne wird aus dem Auto geholt und den Reisenden in die Hände gegeben. Das ist alles. Der Zuschauer darf natürlich davon ausgehen, dass die Asche in den Fluss oder ins Meer geleert wird. Das mag in der Realität aus Umweltschutzgründen nicht opportun sein, in der Fiktion liegt das aber im Bereich der künstlerischen Freiheit und ist absolut legitim. So soll das Fernweh und die bevorstehende Reise von Gertrud verdeutlicht werden. Von einem impliziten Aufruf kann keine Rede sein. Es ist die richtige Entscheidung für diese fiktive Figur und bedeutet nicht, dass der Zuschauer, dasselbe tun soll.

‘Thema Gaslighting als psychische Folter durch diese Enkelin mit Verkupplungsversuch und für Suizidgrund wurde zu wenig problematisiert!’

Die Zuschauerin bezieht sich hier auf die Tatsache, dass die Urenkelin im Namen von Urgrossmutter Gertrud auf Kontaktanzeigen im Internet antwortet. Das hat eine erfreuliche und unerfreuliche Folge. Erfreulich ist, dass Gertrud tatsächlich einen sie liebenden Partner findet. Die negative Folge: Gertrud kann sich zu Recht nicht daran erinnern, selber Mails geschrieben zu haben. Es bestärkt sie in ihrem Glauben, dement zu werden und stärkt ihren Suizidplan. Darin sieht die Zuschauerin einen Fall von Gaslighting, das eine Form von psychischer Gewalt bezeichnet, mit der die Opfer gezielt desorientiert, manipuliert und verunsichert werden. Das trifft auf ‘Die letzte Pointe’ aber nicht zu. Die Urenkelin, ein 11-jähriges Mädchen, gibt sich im Internet als ihre Grossmutter aus, weil sie ihr etwas zuliebe tun will, nämlich einen Partner zu finden. Von gezielter psychischer Gewalt der Urenkelin gegen ihre Urgrossmutter kann dabei keine Rede sein. Auch wenn die Konsequenzen ihrer Mailschreiberei fatal sind.

Aus den genannten Gründen bitten wir Sie, diese Beanstandung abzuweisen.»

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung des Films. Herr Thomas Lüthi hat Ihre Beanstandung in der redaktionellen Stellungnahme in sieben Punkte gegliedert. In sechs der Punkte kann ich mich ihm vollkommen anschliessen, ohne dass ich weitere Ausführungen machen muss. Einen Punkt, ‘Anleitung zu Suizid’, möchte ich hingegen weiter diskutieren. Die Frage ist: Was dürfen Medien – aktuelle und periodische wie auch nicht-aktuelle, faktenbezogene und fiktionale – über Suizidversuche und Suizide zeigen? Es ist klar, dass Medien über aufsehenerregende Selbstmorde berichten, etwa über Selbstverbrennungen, Selbstmordattentate, Suizide als Teil von schweren Verbrechen, Suizidversuche an einem sichtbaren öffentlichen Ort oder Suizide prominenter Personen. Umstritten ist, ob bei prominenten Personen immer auch beschrieben werden soll, wie sie sich umgebracht haben. Umstritten ist, ob die öffentliche Inszenierung eines Freitods gezeigt werden soll – wie beispielsweise jene des tödlich kranken Amerikaners Craig Ewert, Professor für Informationstechnologie und Mathematik, der über seinen Weg in den Tod einen Dokumentarfilm drehen liess, jene des jungen Schweden oder des jungen Japaners, die sich 2010 vor der Webkamera umbrachten, oder jene des psychisch kranken Schweizers André Rieder, über dessen freiwilligen Tod SRF am 17. Februar 2011 den Dokumentarfilm «Tod nach Plan» ausstrahlte.

Der frei gewählte Tod ist etwas eminent Privates. Das Sterben gehört zu den intimsten Momenten eines Menschen, ganz gleichgültig, ob jemand eines natürlichen Todes stirbt, Opfer eines Unfalls oder eines Verbrechens wird oder Suizid begeht. Diese Intimität würde eigentlich erheischen, dass jegliche Medienberichterstattung unterbleibt. Doch Privatheit und Öffentlichkeit stehen in einem Spannungsverhältnis. Nicht alles «Private» ist unter allen Umständen privat, intim oder geheim, nicht alles «Öffentliche» ist unter allen Umständen öffentlich und publik. Wenn ein Bundesrat in seinen Ferien an der Adria am Strand liegt, dann befindet er sich nicht im privaten Raum, sondern im öffentlichen Raum. Aber dennoch ist er in diesem öffentlichen Raum privat, und sein Strandleben ist kein Thema öffentlicher Berichterstattung und Erörterung. Wenn ein Unternehmer privat genau dies nicht tut, was er in seiner Unternehmensphilosophie dauernd verkündet, dann wird sein privates Verhalten zum öffentlichen Thema. Öffentliches kann privat sein, Privates kann öffentlich werden.

So ist denn bei Suiziden zu definieren, inwiefern ein öffentliches Interesse vorliegt, dass darüber berichtet wird. Ein öffentliches Interesse liegt dann vor, wenn mit einem Suizid ein gesellschaftliches Problem verbunden ist. Selbstverbrennungen als Fanal, gehäufte Suizide in Kasernen, Gefängnissen oder Heimen sind Indikatoren von ungelösten Problemen und gehen die Öffentlichkeit etwas an. Ebenso liegt ein öffentliches Interesse vor, wenn Suizide im Zusammenhang mit schweren Verbrechen stehen, mit Attentaten, Amokläufen, Familiendramen, Stammesfehden usw. Die Öffentlichkeit hat Anspruch zu wissen, ob die Täter noch auf freiem Fuss sind, verhaftet wurden oder Suizid begangen haben. Ein öffentliches Interesse besteht auch, wenn sich eine prominente Person umbringt, wobei es nicht genügt, dass die Person an ihrem Wohnort bekannt ist. Prominenz hat etwas mit der öffentlichen Rolle und mit dem Bekanntheitsgrad zu tun. Wenn in Deutschland nur wenige wissen, wie der Entwicklungshilfe-Minister heißt, so ist er deswegen, kraft seines Amtes, trotzdem prominent. Ein Briefträger, der immer Witze macht und den das ganze Dorf kennt, ist dennoch nicht prominent. Schliesslich besteht ein öffentliches Interesse an Suiziden und Suizidversuchen, wenn jemand mit einer spektakulären, öffentlich sichtbaren Aktion auf sich aufmerksam macht, beispielsweise sich auf einem belebten Platz aufhängt oder vom Münsterturm springt. Da sind so viele Leute Zeugen, dass eine Medienberichterstattung unverzichtbar ist.

Dieses öffentliche Interesse ist auch wegleitend dafür, welche Nachrichtenfaktoren wirken, damit ein Suizidfall berichtenswert ist. Kommunikationswissenschaftler definierten die folgenden sechs suizidrelevanten Nachrichtenfaktoren: Suizide sind höchst berichtenswert,

  • wenn die Methoden des Suizids spektakulär sind;
  • wenn der Suizid mit dem Versuch verbunden ist, auch andere Menschen zu töten (also bei Familiendramen, Attentaten, Amokläufen; berühmtes Beispiel: provozierter Absturz der Germanwings-Maschine vom 24. März 2015 in Frankreich);
  • wenn die Leiche sehr spät entdeckt wird (und erst dann feststeht, dass es nicht Mord war, sondern Suizid);
  • wenn die Person prominent ist;
  • wenn konspirative Umstände oder spektakuläre Motive vorliegen (also der Suizid im Zusammenhang steht mit einem größeren, länger anhaltenden politischen oder juristischen Thema).

Diese Nachrichtenfaktoren reizen zur Berichterstattung. Damit ist aber nicht gesagt, dass die Berichterstattung in jedem Fall und in jeder Art begründet ist. Die kommunikationswissenschaftliche Forschung hat diese Nachrichtenfaktoren ohne moralische Wertung herausdestilliert.

Wissenschaftler kritisieren aber auch die bisherige Medienforschung. So nannten die Münchner Kommunikationswissenschaftler Carsten Reinemann und Sebastian Scherr fünf Defizite:[1]

  1. Der Forschungsstand ist keineswegs eindeutig: Man findet Studien, die den Werther-Effekt nachweisen, und solche, die den Papageno-Effekt aufzeigen. Der Werther-Effekt ist die durch sensationslüsterne Berichterstattung ausgelöste erhöhte Suizidrate nach der gleichen Methode, der Papageno-Effekt zeigt hingegen eine Abnahme der Suizide nach einer aufklärenden, mit Experten-Interviews angereicherten, auf Prävention ausgerichteten Berichterstattung.[2]
  2. Die Wirkung von Medieninhalten ausserhalb von Suizidberichten ist nicht untersucht worden. Suizide können auch ausgelöst werden durch Medieninhalte wie Nachrichten über Kriege, Katastrophen, durch Kriminalfilme oder Gewaltvideos.
  3. Der Fokus liegt einseitig auf Suiziden und Suizidversuchen (und nicht auf Depressionen usw.), das heißt: publizistikwissenschaftliche Forschung kooperiert zu wenig mit medizinischer und psychologischer Forschung.
  4. Rezipienten als Individuen bleiben unberücksichtigt. Es ist bisher zu pauschal ein Stimulus-Response-Modell angewendet worden.
  5. Rezeptionsphänomene wurden vernachlässigt. Es wird zu wenig in Rechnung gestellt, dass es auch die Third-Person-Wahrnehmung gibt und dass es bei Personen mit Depressionen Wahrnehmungsstörungen gibt.

Unabhängig von der inhaltlichen Kritik an der bisherigen Medienforschung registrierte die Kommunikationswissenschaftlerin Alice Ruddigkeit, damals Universität Münster, drei Positionen in der Wissenschaft:[3]

  1. Jene, die keinen Zusammenhang sehen zwischen Medienberichten und Suizidrate.
  2. Jene, die einen schädigenden Einfluss feststellen, der zur Erhöhung der Suizidrate führt.
  3. Jene, die folgern, dass die Suizidrate durch Medienberichterstattung einerseits ansteigt, aber durch sorgfältige Berichterstattung auch gesenkt werden kann.

Alice Ruddigkeit hat in einer empirischen Untersuchung mit einem Quasi-Experiment auf Aggregatdatenebene 140 überregional publizierte Suizidberichterstattungsfälle in Deutschland zwischen 2001 und 2003 analysiert. Dabei hat sie bei berichteten Suiziden die Statistik jeweils der Vorwoche und der Folgewoche herangezogen. Sie fand den stärksten Werther-Effekt bei jungen Männern unter 30, aber nur dann, wenn über Suizide in der gleichen Altersgruppe berichtet wurde. Im Übrigen waren die Wirkungen widersprüchlich, außer dass sie feststellen konnte: Je individualistischer über einen Suizid berichtet wird, umso eher entsteht ein Effekt.

Die Forscherin bildete aus ihrem Material vier Cluster und kam zu folgendem Ergebnis:

  • Bei Cluster 1: Junge Opfer (n = 27) waren keine Einflüsse auf die allgemeine Suizidstatistik feststellbar.
  • Bei Cluster 2: Vage Prominenz (n = 24) gibt es einen leichten Werther-Effekt, das heißt: die Suizidrate stieg in der Folgewoche an.
  • Bei Cluster 3: Konspirative Umstände (n = 53) ist kein bedeutsamer Effekt feststellbar.
  • Bei Cluster 4: Anonyme Täter (n = 36) verringert sich die Suizidrate in der Folgewoche signifikant.

Damit zeigt sich eindeutig, dass sich nichts Eindeutiges zeigen lässt: Entweder gibt es keinen Effekt oder die Suizidrate steigt an oder nimmt ab. Der Weg führt in die Sackgasse.

Deshalb plädiere ich für einen Perspektivenwechsel: Statt der wirkungszentrierten Perspektive, die die Medienberichterstattung nach einem Werther-Effekt oder einem Papageno-Effekt abklopft und die Medienschaffenden dazu bringen will, so zu berichten, dass möglichst Nachahmungen vermieden werden, möchte ich die ethikzentrierte Perspektive in den Vordergrund rücken: Sie richtet den Fokus auf die Menschenwürde und untersucht die Medien danach, ob sie die Würde des Suizidalen, der weiteren Opfer, der Angehörigen und des Publikums beachten. Die Medienschaffenden wären demnach aufzufordern, allen Beteiligten mit Respekt zu begegnen.

Wie gehen denn die Medienschaffenden in der Schweiz mit Suiziden um? In einer psychologischen Bachelor-Arbeit haben Franziska Altermatt und Brigitta Steinmann 2009 in der Deutschschweiz 222 Medienschaffende befragt.[4] Dabei fanden sie heraus, dass nur 24 Prozent je über Suizide berichtet haben und dass es nur 1,8 Prozent quasi regelmässig tun. Wird die Einstellung der Medienschaffenden erkundet, so würden 6 Prozent grundsätzlich nicht über Suizide berichten, 26 Prozent würden grundsätzlich (also eigentlich immer) berichten und 68 Prozent nur unter bestimmten Voraussetzungen, die größte Gruppe dann, wenn ein öffentliches Interesse besteht.

Diese Zurückhaltung entspricht auch dem, was der Schweizer Presserat empfiehlt. Im Leitentscheid zur Suizidberichterstattung von 1992[5] stellte er fest, Suizide seien eine soziale Realität, kein Tabu, er verlangte aber größte Zurückhaltung in der Berichterstattung, im Zweifelsfall soll sie unterlassen werden. Berichterstattung sei indessen angezeigt:

  1. wenn Suizide Aufsehen erregen, mit Verbrechen verbunden sind, als Demonstration angelegt werden, auf ein Problem aufmerksam machen, zu Diskussionen führen oder Anlass zu Gerüchten geben;
  2. wenn sich Suizide in öffentlichen Institutionen häufen.

Dabei sollen keine Namen, Bilder, Adressen und andere Privatinformationen mitgeteilt werden. Dies gilt nur beschränkt für Personen der Zeitgeschichte, über die dann berichtet werden soll, wenn der Suizid einen Bezug zu ihrer öffentlichen Aufgabe hat. Generell sollen die Berichte nicht detailliert sein wegen der Nachahmungsgefahr.

Auf diesen Leitentscheid des Presserates stützt sich die Richtlinie 7.9, die die Suizidberichterstattung zum Thema hat.[6] Ergänzend zum Leitentscheid ist dort neu festgehalten, dass über Personen des öffentlichen Lebens ohne Einschränkung berichtet werden darf, und dass auch berichtet werden darf, wenn die Verstorbenen oder Angehörigen von sich aus an die Öffentlichkeit gelangt sind.

In diesem Kontext stehen auch die Publizistischen Leitlinien von Schweizer Radio und Fernsehen (SRF), die unter 8.2. festhalten:[7]

„Über Suizide berichten wir nicht. Ausnahmen sind möglich,

  • wenn die Tat öffentlich war (z.B. Selbstverbrennung in der Öffentlichkeit),
  • wenn die Tat mit andern Straftaten kombiniert war (z.B. Entführung) oder
  • wenn es sich um eine in der Öffentlichkeit bekannte Person handelt.

Wir verzichten darauf, Details über die Art des Todes zu erwähnen – zum Beispiel zeigen wir nicht die Brücke, von der sich jemand in den Tod gestürzt hat.“

Wie ist nun der Film „Die letzte Pointe“ vor diesem Hintergrund zu bewerten? Wie ist er aus der ethikzentrierten Perspektive und aus der wirkungszentrierten Perspektive zu betrachten? Zunächst ist festzuhalten, dass es sich um Fiction handelt. Es geht nicht um Faktenberichterstattung, sondern um eine erfundene Geschichte, die allerdings aus dem Leben gegriffen ist und sich ohne Weiteres so abspielen könnte. Die Hauptperson der Geschichte, die alt ist und aus dem Leben scheiden will, ist keine prominente Person. Aktuelle Medien würden über sie im Regelfall nicht berichten. Es wird in dem Film auch kein Suizid gezeigt, sondern es werden nur „Vorbereitungshandlungen“ geschildert. Allerdings ist erwiesen, dass auch fiktionale Medienbeiträge Effekte haben können.

Wenn wir nun aus der ethikzentrierten Perspektive fragen, ob ihre Prinzipien beachtet wurden, dann können wir mit Ja antworten: Die Würde aller Beteiligten wurde respektiert. Es wird niemand erniedrigt. Nichts allzu Privates und Intimes wird gezeigt. Hochheikel ist allerdings die Szene, in der der Fachmann für Sterbebegleitung der Frau schließlich nach längerem Drängen zeigt, wie man sich mit Helium umbringt. Hier geht es nicht mehr um die Würde, sondern um die Wirkung. Und aus der wirkungszentrierten Perspektive ist nicht auszuschließen, dass diese Szene bei suizidwilligen Menschen zur Nachahmung der Methode geführt hat. Nachdem sich der deutsche Fußball-Torwart Robert Enke 2009 vor einen fahrenden Zug geworfen hatte, nahmen in der Folge Suizide auf Bahngeleisen zu. Aus diesem Grund hätte man die Szene mit der Helium-Methode eigentlich nicht zeigen dürfen.

Umgekehrt erwägt die alte Frau ja eine ganze Palette von Suizid-Methoden: den Sprung vom Balkon, den Schuss mit der Waffe, den Fön in der Wanne, das Helium. Da es diese Varietät gibt, werden auch Suizidwillige nach diesem Film zweifelnd und unsicher zurückgelassen. Der Film propagiert keinesfalls eine bestimmte Suizidmethode, auch wenn die Demonstration auf dem Schreibtisch des Fachmanns für Sterbebegleitung den stärksten Eindruck hinterlässt. Es geht ja gerade darum, diese Unsicherheit, dieses Suchen und Zögern zu zeigen.

Kommt dazu, dass ein solcher Film ein Gesamtkunstwerk ist und dass man nicht willkürlich Szenen herausschneiden kann, die zu den Denkszenarien des Autors und damit der Protagonistin gehören. Solche Szenen darzustellen, gehört zur Kunstfreiheit.

Wäre die Szene Bestandteil einer aktuellen Berichterstattung beispielsweise im Rahmen von „10 vor 10“, hätte ich Ihre Beanstandung unterstützt. Denn dann wäre die Berichterstattung unzulässig, weil sie einen Eingriff in die Intimsphäre einer nicht prominenten Person darstellte, kein öffentliches Interesse beanspruchen könnte und durch das Beispiel von Suizidmethoden tendenziell „Gewalt verherrlicht“ (Artikel 4 Absatz 1 des Radio- und Fernsehgesetzes).[8] Da es sich aber um einen fiktionalen Film handelt, der ja gerade die Ängste einer alten Frau behandelt, die glaubt, in die Demenz zu fallen und deshalb aus dem Leben scheiden will, muss die Darstellung auch diverser Methoden möglich sein, weil sonst die Problematik gar nicht behandelt werden könnte. Da der Film alle Aspekte behutsam und einfühlsam angeht, erachte ich ihn auch im Lichte des Radio- und Fernsehgesetzes als tolerierbar. Ich komme daher zum Schluss, dass ich Ihre Beanstandung nicht unterstütze.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüssen,
Roger Blum, Ombudsmann

[1] Reinemann, Carsten/ Scherr, Sebastian (2011): Der Werther-Defekt. Plädoyer für einen neuen Blick auf den Zusammenhang von suizidalem Verhalten und Medien. In: „Publizistik“2011/1, S. 89-94. https://link.springer.com/article/10.1007/s11616-010-0109-y

[2] https://www.derstandard.de/story/2000092004337/richtig-berichten-papageno-effekt-kann-suizidgedanken-verringern

[3] Ruddigkeit, Alice (2010): Der umgekehrte Werther-Effekt. Eine quasi-experimentelle Untersuchung von Suizidberichterstattung und deutscher Suizidrate. In: „Publizistik“ 2010/3, S. 253-273. https://www.infona.pl/resource/bwmeta1.element.springer-57caebc0-ce52-37ab-8051-cebbfe670289

[4] Altermatt, Franziska/ Steinmann, Brigitta (2009): Berichterstattung über Suizid in Deutschschweizer Zeitungen. Eine suizidpräventive Massnahme für Medienschaffende: Zielgruppenanalyse und Empfehlungen für ein Kursmodell. Bachelor-Arbeit. Bern.

[5] https://presserat.ch/complaints/stellungnahme-des-presserates-vom-23-dezember-1992-zur-berichterstattung-ber-suizide/

[6] https://presserat.ch/journalistenkodex/richtlinien/

[7] https://www.srf.ch/unternehmen/unternehmen/qualitaet/publizistische-leitlinien-srf

[8] https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20001794/index.html

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