«Kontext»-Beitrag «Theater Marie auf Spurensuche: Wer war die Giftmörderin von Suhr?» beanstandet

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Mit Ihrer E-Mail vom 21. Februar 2020 beanstandeten Sie die Sendung «Kontext» (Radio SRF 2 Kultur) vom 20. Februar 2020 und dort den Beitrag «Theater Marie auf Spurensuche: Wer war die Giftmörderin von Suhr?»[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann daher darauf eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

«Meine Beanstandung richtet sich gegen den dritten Beitrag der Sendung Kontext vom angegebenen Datum. In diesem Beitrag geht es um ein Theaterstück von Ariane Koch über die Aargauer Bauersfrau Verena Lehner, die 1929 wegen eines zweifachen Giftmordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Der Beitrag besteht aus Redebeiträgen der Journalistin, O-Tönen der Autorin und O-Tönen aus dem Theaterstück. Im Ganzen finde ich den Beitrag in Ordnung und interessant. Ich beanstande aber eine Passage, bei der eine höchst problematische Aussage der Theaterautorin unkommentiert und unreflektiert stehen gelassen wird. Die entsprechende Aussage: <Die Frage ‘War sie’s oder war sie’s nicht?’ wurde eigentlich immer weniger wichtig. Ich hab gemerkt , das interessiert mich gar nicht, weil man kann das eigentlich gar nicht beantworten jetzt im nachhinein. Also man kann eben höchstens die Frage aufwerfen: Ist sie zu Unrecht verurteilt worden? Aber ich würde das auch nicht abschliessend so beurteilen wollen, weil ich natürlich dann auch wieder eigentlich aus feministischer Perspektive denke, dass man ihr diese Täterinnenrolle einfach zuschreiben dürfen soll. Ich finde auch einfach, dass sie das gewesen sein darf.> (ab 09:01). Wenn auch wortgewandt formuliert, so heisst dies aus Sicht der Theaterautorin, dass es als diskriminierte Frau aus Sicht des Feminismus gerechtfertigt war, Morde zu begehen. Es ist offen, ob eine solche Aussage in einem kulturellen Radio-Beitrag von einer Kulturschaffenden gemacht werden darf. Wenn sie aber gemacht und stehen gelassen werden darf, so ist sie durch die verantwortliche Journalistin kritisch einzuordnen und zu reflektieren. Entgegnet man, dies sei nicht Aufgabe dieses Beitrags bzw. es sei zu wenig Platz, um dies zu tun, so wäre im Gegenzug zu fragen, ob diese Aussage für das Verständnis dieses Beitrags wirklich unverzichtbar ist. Jedenfalls: Lässt man eine solche Aussage unkommentiert stehen, verstösst man gegen den Grundsatz der Achtung der Menschenwürde und transportiert gewaltverharmlosende Inhalte. Das Tötungsverbot steht nicht zur Disposition und darf nicht relativiert werden, von niemanden und unter keinem weltanschaulichen oder ideologischen Titel. Dieses Prinzip wurde im beanstandeten Beitrag verletzt.»

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für «Kontext» äußerte sich Frau Sandra Leis, Leiterin der Redaktion Kultur und Gesellschaft bei Radio SRF 2 Kultur:

«Die beanstandete Beitrag ‘Theater Marie auf Spurensuche: Wer war die Giftmörderin von Suhr?’ ist in der ‘Kontext’-Sendung ‘Künste im Gespräch’ vom 20.2.2020 ausgestrahlt worden: Die Aargauer Bauersfrau und Wahrsagerin Verena Lehner wurde 1929 des doppelten Giftmordes angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt. Obwohl Verena Lehner stets ihre Unschuld beteuerte, wurde ihr Fall kein zweites Mal aufgerollt. Wer war die Frau, die aus ärmlichen Verhältnissen stammte, mit einem Trinker verheiratet war, 16 Kinder grosszog und der Aargauer Bourgeoisie die Karten legte und somit eigenes Geld verdiente? Dieser Frage geht die Theaterautorin Ariane Koch im Auftrag des Theaters Marie nach. Entstanden ist das Theaterstück ‘verdeckt’.

Herr X beanstandet im Beitrag der Journalistin und regelmässigen freien Mitarbeiterin Kaa Linder eine Passage, in der die Theaterautorin eine aus seiner Sicht ‘höchst problematische Aussage’ gemacht habe. Ariane Koch sagte (ab 09:01): <Die Frage ,War sie’s, oder war sie’s nicht?‘ wurde eigentlich immer weniger wichtig. Ich hab gemerkt, das interessiert mich gar nicht, weil man kann das eigentlich gar nicht beantworten jetzt im Nachhinein. Also man kann eben höchstens die Frage aufwerfen: Ist sie zu Unrecht verurteilt worden? Aber ich würde das auch nicht abschliessend so beurteilen wollen, weil ich natürlich dann auch wieder eigentlich aus feministischer Perspektive denke, dass man ihr diese Täterinnenrolle einfach zuschreiben dürfen soll. Ich finde auch einfach, dass sie das gewesen sein darf.> Daraus schliesst Herr X, Frau Koch sei der Meinung, <dass es als diskriminierte Frau aus Sicht des Feminismus gerechtfertigt war, Morde zu begehen>.

Wie Herr X zu diesem Schluss kommt, kann ich nur sehr schwer nachvollziehen. Denn auch bei mehrmaligem Hören habe ich Ariane Koch in keinem Moment so verstanden, dass sie die Giftmorde in Suhr in irgendeiner Weise würde rechtfertigen wollen. Ausserdem hat die Autorin diese Äusserung explizit im Konjunktiv gemacht und – als rein gedankliche Hypothese – in Betracht gezogen, dass Verena Lehner theoretisch eine Täterin hätte sein sollen dürfen. Dieser heutigen, differenziert formulierten Sichtweise der Autorin gab es meines Erachtens von Seiten der Journalistin Kaa Linder nichts entgegenzustellen. Die Aussage von Herrn X, mit dieser unkommentierten Passage würde Radio SRF 2 Kultur ‘gewaltverharmlosende Inhalte’ transportieren, weise ich deshalb dezidiert zurück. Einig hingegen bin ich mit Herrn X, dass das Tötungsverbot nicht zur Disposition steht und auch nicht relativiert werden darf.»

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Ich kann Ihre Kritik verstehen, ist doch der umstrittene Satz der Autorin Ariane Koch einerseits schwer verständlich und anderseits nicht ohne Brisanz. Das Einfachste wäre jetzt, bei Ariane Koch nachzufragen, wie sie den Satz gemeint hat. Doch das hilft nichts, denn die Sendung ist ausgestrahlt, und zur Debatte steht nicht die Meinung der Autorin, sondern das Verhalten der Journalistin, die mit ihr das Gespräch geführt hat. Hätte die Journalistin sich von dem Satz distanzieren, ihn gar weglassen müssen? Ich meine nein, denn der Satz erhellt zusätzlich die Perspektive, mit der sich Ariane Koch in ihrem Stück der des Giftmords angeklagten und verurteilten Verena Lehner angenähert hat: eine feministische Perspektive, bei der das Ziel nicht war, die Unschuld von Verena Lehner zu beweisen, sondern ihre Auflehnung gegen gesellschaftliche Konventionen zu beschreiben. Man muss sich die Zeit vergegenwärtigen: Die Todesstrafe war zwar abgeschafft, Hexenprozesse gab es keine mehr, aber die Frauen waren noch immer die «Untertanen» ihrer Männer. Der Mann bestimmte den Wohnsitz, hatte die Schlüsselgewalt, und er entschied, ob die Ehefrau einer bezahlten Arbeit nachgehen durfte. In diesem Kontext war Verena Lehner eine emanzipierte Frau, die Gütertrennung erwirkte und eigenen Geschäften nachging, ja Vermögen anhäufte. Da kann man schon zum Schluss kommen, dass sich die ausschließlich männlichen Richter für solche Eigenständigkeit, ja Unverschämtheit im Prozess, der ihnen dazu die Chance bot, an dieser Frau rächten. Dies in Betracht gezogen, kann man den Satz auch so lesen, dass Verena Lehner zu Recht eine Täterin gegen die starren gesellschaftlichen Konventionen war.

Es ist unbestritten: Radio SRF 2 Kultur kann weder direkt noch indirekt das Töten billigen – weder in der Form des Mordes und der Tötung noch in der Form der Todesstrafe. Da bin ich mit Ihnen, aber auch mit der Redaktion einer Meinung. Um hier keinen Verdacht aufkommen zu lassen, wäre eine zusätzliche Nachfrage der Journalistin sicher nützlich gewesen: «Wie meinen Sie das? Heißen Sie etwa das Morden gut?». Es nicht getan zu haben, ist aber angesichts der komplizierten Formulierung und der zusätzlichen Erhellung der Perspektive höchstens ein Fehler in einem Nebenpunkt, der nicht geeignet ist, die freie Meinungsbildung des Publikums zu beeinflussen. Ich kann daher Ihre Beanstandung nicht unterstützen.

Ihnen aber danke ich, dass Sie so aufmerksam zugehört und die Problematik des Satzes bemerkt haben. Solche Hörerinnen und Hörer braucht Radio SRF!

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüssen,
Roger Blum, Ombudsmann

[1] https://www.srf.ch/sendungen/kontext/kuenste-im-gespraech-wurzelkleid-spirou-giftmoerderin-von-suhr

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