«Tagesschau»-Beitrag «Absturz in Würenlingen AG: Ursache nie ganz geklärt» beanstandet
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Mit Ihrer E-Mail vom 24. Februar 2020 beanstandeten Sie die Sendung «Tagesschau» (Fernsehen SRF) vom 21. Februar 2020 und dort den Beitrag «Absturz in Würenlingen AG: Ursache nie ganz geklärt».[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann daher darauf eintreten.
A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:
«Die Ausstrahlung der Liveaufzeichnung aus dem abstürzenden Flugzeug haben mich schockiert, tief betroffen und gleichzeitig überaus wütend gemacht! Das Unglück als solches, auch fünfzig Jahren danach, ist doch wahrlich tragisch genug und verlangt nach einer umsichtigen, würdevollen und pietätvoll erinnernden Berichterstattung. Die Zuseher verlangen mehrheitlich nicht nach einer aufreisserischen, sensationsgeilen Berichterstattung, sie wird ihnen offensichtlich zunehmend auch vom Schweizer Fernsehen aufoktroyiert. Es würde mich sehr freuen, wenn meine Kritik als Motivation für eine informative, sachliche und rücksichtsvolle Sendegestaltung verstanden würde. Für die andere Art gibt es ja genügend Sender und seit Kurzem ja einen neuen Schweizerischen.»
B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die «Tagesschau» antwortete Herr Franz Lustenberger, ehemaliger stellvertretender Redaktionsleiter:
„Mit Mail vom 24. Februar 2020 hat Herr X eine Beanstandung gegen die Tagesschau vom 21. Februar eingereicht. Es geht um die Berichterstattung zur Erinnerung an den Flugzeugabsturz bei Würenlingen vor 50 Jahren. Ursache des Absturzes war die Explosion einer Bombe, die von Terroristen im Laderaum des Flugzeuges platziert werden konnte. Der Beanstander kritisiert insbesondere die Einspielung des Original-Tons aus dem Cockpit kurz vor dem Absturz. Er wirft weiter grundsätzliche Fragen zur Berichterstattung bei Katastrophen und Erinnerungstagen auf.
Die Tagesschau nimmt zu beiden Aspekten Stellung:
O-Ton aus dem Cockpit
Der Einstieg in den Beitrag ist in der Tat sehr emotional; die Worte aus dem Cockpit berühren das Publikum auch heute 50 Jahre nach dem Ereignis. Der O-Ton gibt die Verzweiflung, die Not und den Schmerz der Crew wieder, bis hin zu den letzten Worten ‚goodbye everybody‘. Der O-Ton ist unterlegt mit Bildern eines Waldes, den Blick nach oben gerichtet – und ohne ein Flugzeug zu sehen. Die Autorin des Beitrages hat diese Montage bewusst gewählt; die Bilder des Waldes sind ruhig, ohne Dramatisierung. Das Drama hat sich oben in der Luft abgespielt. Es ist vielleicht gerade dieser Gegensatz, der besonders berührt und auch aufwühlen kann.
Die letzten Worte aus dem Cockpit leiten bildlich über zum Buch mit dem gleichnamigen Titel (erschienen 2015), in dem Arthur Schneider, damals Gemeinderat von Würenlingen, diesen ersten Terroranschlag auf ein Schweizer Flugzeug aufrollt.Dem eigentlichen Beitrag mit dem O-Ton ist eine Moderation vorausgegangen, welche kurz die wesentlichen Fakten zum Absturz zusammenfasst und dabei auch den Gedenkanlass an der Absturzstelle würdevoll und pietätvoll aufnimmt. Der Fokus im Beitrag liegt auf den Auswirkungen auf den Flugverkehr, der in dieser Zeit von terroristischen Angriffen erschüttert wurde.
Grundsätzliche Fragen
Der Beanstander stellt auch grundsätzliche Fragen zur Berichterstattung durch Fernsehen SRF in diesen und analogen Situation. Zuerst möchte ich darauf hinweisen, dass die Sendung Schweiz aktuell am gleichen Tag sehr ausführlich über den Gedenktag in Würenlingen berichtet hat.[2] Im Beitrag kommt Ruedi Beglinger, Sohn eines Opfers, ausführlich zu Wort. Dieser Beitrag wie auch das daran anschliessende live-Gespräch mit Arthur Schneider sind sehr rücksichtsvoll und würdevoll umgesetzt. Hier liegt der Fokus auf dem aktuellen Gedenken in Würenlingen sowie der persönlichen Erinnerung und Verarbeitung des Geschehenen durch Betroffene.
Nun zu den ethischen Fragen: Das Bundesgesetz über Radio und Fernsehen (RTVG hält in Artikel 4 im Grundsatz Folgendes fest: “Alle Sendungen eines Radio- oder Fernsehprogramms müssen die Grundrechte beachten. Die Sendungen haben insbesondere die Menschenwürde zu achten....”[3]
In den Publizistischen Leitlinien von SRF wird dies weiter konkretisiert. Ich verweise explizit auf die Kapitel 7.1. (Besondere Sorgfalt) und 8.1 (Gewaltdarstellungen).[4] Die verantwortlichen Produzenten in den Senderedaktionen und die Autoren von Beiträgen sind sich dessen sehr wohl bewusst. Inhaltliches und Formales von Beiträgen werden vor der Realisierung vorbesprochen; vor der Ausstrahlung findet zudem eine Abnahme statt.
Fazit
Die Redaktion Tagesschau ist der Ansicht, dass der beanstandete Beitrag mit der O-Ton Aufnahme der letzten Worte aus dem Cockpit die Regeln eines sorgfältigen Umgangs mit heiklen Themen nicht verletzt hat. Auch die Menschenwürde wurde gewahrt. Die Berichterstattung zum Gedenktag 50 Jahre Würenlingen war weder reisserisch noch sensationsgeil. Fernsehen SRF ist sich seiner Verantwortung im vom Beanstander angesprochenen Bereich bewusst. Solche Beiträge - wie im konkreten Fall der Gedenktag zum Attentat auf die Swissair-Maschine vor 50 Jahren – werden in der internen Sendekritik immer auch wieder besprochen. SRF steht für einen sachbezogenen Service Public, und nicht für eine aufreisserische oder sensationsgeile Berichterstattung. In diesem Sinne ist die Beanstandung auch Anlass, dem Aspekt der Emotionalität in Beiträgen die richtige Aufmerksamkeit zu schenken.
Ich bitte Sie, die Beanstandung in diesem Sinne zu beantworten und nicht zu unterstützen.“
C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung des Beitrags. Ich finde auch, dass die Autorin behutsam mit dem Thema umgegangen ist. Sie haben Recht, dass man äußerst zurückhaltend sein muss mit Bildern und Tönen von Todesszenen, Kriegsszenen, Hinrichtungen, Folterungen usw. Im Prinzip zeigt man solche Bilder nicht; deutet nur an. Vor allem soll immer die Menschenwürde gewahrt bleiben. Doch besteht ein Unterschied zwischen Bildern und Tönen, die noch Lebende oder noch lebende Angehörige betreffen, und historischen Bildern. Die Bilder der Leichenberge in befreiten Konzentrationslagern der Nazis, die Bilder der nackten flüchtenden Kinder in Vietnam – sie sind heute historische Symbolbilder für den Schrecken geworden. Und so ist die Stimme des Piloten über Würenlingen ein Symbol für das schreckliche Ereignis eines Terroranschlags auf das Swissair-Flugzeug. 50 Jahre danach darf man dieses Tondokument als historisches Zeugnis senden, ohne boulevardesk zu sein. Ich unterstütze Ihren Aufruf, stets die Würde der Menschen zu achten. Aber formal kann ich Ihre Beanstandung nicht unterstützen, weil der Beitrag die Grundsätze des Radio- und Fernsehgesetzes nicht verletzt.
D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüssen,
Roger Blum, Ombudsmann
[1] https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/absturz-in-wuerenlingen-ag-ursache-nie-ganz-geklaert?id=2f305bbb-49b9-4954-a7e8-49a6e0be7ffe
[2] https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/gedenken-an-den-swissair-absturz-vor-50-jahren-in-wuerenlingen?id=78619563-dfb9-4837-bfd5-18effbac6233
[3] https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20001794/index.html
[4] https://www.srf.ch/unternehmen/unternehmen/qualitaet/publizistische-leitlinien-srf
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