«Wir haben gelernt, Sachen schneller auszuprobieren»
Corona wird im Programm von Schweizer Radio und Fernsehen bleibende Spuren hinterlassen. Für SRF-Direktorin Nathalie Wappler muss in Zukunft nicht mehr alles in Hochglanz und grösster Perfektion daherkommen. Wichtiger sind Authentizität und die Nähe zum Publikum.
LINK: Ist Corona eigentlich ein Glücksfall für SRF, weil der Service public für einmal seine Stärken voll ausspielen konnte?
Nathalie Wappler: Als Glücksfall würde ich es nicht bezeichnen. Es ist eine aussergewöhnliche Situation, in der wir unsere Stärken zeigen können. Aber wir betreiben ja auch unter normalen Umständen eine gute Infrastruktur. Und wenn es darauf an kommt, wie jetzt eben, dann können wir unser ganzes Know-how zeigen, sei das mit unseren Fachredaktionen oder unseren Expertinnen und Experten im Haus.
SRF hat das Angebot schnell der neuen Situation angepasst; vom Schulfernsehen über den Corona-Podcast bis zur «Samstagabend-Kiste». Neue Programme und Formate wurden innert Tagen entwickelt, wofür SRF sonst Wochen und Monate braucht. Wie haben Sie das erlebt?
Die Geschäftsleitung von SRF hat sich jeden Morgen um 7:30 Uhr zu einer Telefonkonferenz zusammengeschaltet. Wir sind dann gemeinsam alle Punkte durchgegangen. Zuerst was den Betrieb angeht. Da ging es auch um Detailfragen, etwa ob es noch ein Salatbuffet braucht. Dann die Gesundheitsfragen, zum Beispiel, ob wir Verdachtsfälle haben und wie wir damit umgehen oder ob wir noch ausreichend Desinfektionsmittel haben. Und dann überlegten wir immer aus dem Tag heraus, was es für das Programm braucht. Dazu fragten wir auch den Kundendienst, was an Reaktionen reingekommen ist. So haben wir sehr schnell die Bedürfnisse und den Bedarf des Publikums gespürt und konnten entsprechend reagieren.
Der Kundendienst spielte also eine Schlüsselrolle für die Entwicklung des Corona-Programms von SRF?
Genau. Der Kundendienst hat jeden Tag bis zu 1000 Anfragen und Rückmeldungen erhalten. Das haben die Mitarbeitenden dann ausgewertet und gebündelt. So haben wir zum Beispiel erfahren, dass die Leute etwas für die Fitness zu Hause wünschen von uns. Oder wir haben gehört, was die Lehrerinnen und Lehrer brauchen oder die Eltern fürs Homeschooling. So konnten wir schnell reagieren, Inhalte realisieren oder in unserem Archiv die passenden Sendungen hervorholen. Insofern war der Kundendienst ein wichtiger Gradmesser für die Stimmung im Publikum.
Rein praktisch: Wie lassen sich 1000 Anfragen bewältigen?
Da der Kundendienst gar nicht alle Anfragen alleine bewältigen konnte, halfen auch Mitarbeitende aus anderen Bereichen aus, Personal vom Empfang beispielsweise oder aus dem Sport, wo momentan weniger zu tun ist als in normalen Zeiten.
Das schnell zusammengebaute und teils improvisierte Corona-Programm kam beim Publikum sehr gut an, obwohl es nicht perfekt daherkam. Wie erklären Sie sich das?
Tatsächlich hätte man sich vorher nicht vorstellen können, dass jemand in der «Tagesschau» zugeschaltet wird, mit zwei Ohrhörern drin, oder dass das Bild ein bisschen ruckelt. Aber eigentlich haben wir uns alle längst an solche Bilder gewöhnt, sei es von YouTube oder von anderen Plattformen. An diesem Punkt haben wir in den letzten Wochen dazugelernt. Authentizität ist wichtig, da kann man die technischen Standards durchaus ein bisschen senken.
Es gab auch Kritik am Corona-Programm. In der ersten Phase der Pandemie hätten die Informationssendungen von SRF zu staatsnah, zu unkritisch berichtet, monierten Medienwissenschaftler. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?
Ich verstehe den Anspruch, den die Medienwissenschaften an uns richten. Es ist halt immer eine Frage, von welcher Seite man das Ganze anschaut. In der ersten Phase ging es vor allem darum, dass wir informierten. Die Menschen hatten ein enormes Informationsbedürfnis, das habe ich auch gespürt. Was ist überhaupt los? Was gilt, was gilt nicht? Das hat die Leute interessiert.
«Wenn wir damals schon alles hinterfragt hätten, wäre gar keine Zeit geblieben, um auch noch alle erforderlichen Informationen zu vermitteln.»
Nathalie Wappler, Direktorin SRF
In der zweiten Phase gab es dann ein grosses Erklärungsbedürfnis, das wir befriedigen mussten. Dem sind wir nachgekommen, und zwar in allen möglichen Facetten: Bei «Zambo» erklärten wir den Kleinsten, was ein Virus ist, bis hin zu «Puls», wo wir zeigten, wie ein Beatmungsgerät funktioniert. Erst in der dritten Phase kann man dann in die Kontextualisierung reingehen und die offenen Fragen kontroverser diskutieren. Wenn wir in unseren ersten Sondersendungen die unterschiedlichen Forschungsrichtungen in der Virologie präsentiert hätten, hätte dies kaum dem Informationsbedürfnis der Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt entsprochen.
Wie gut war SRF auf eine Ausnahmesituation wie Corona vorbereitet?
Es gab verschiedene Grundkonzepte, etwa Sicherheitskonzepte. Aber eine eigentliche Pandemieplanung hatte SRF nicht. Wir bauten diese dann basierend auf den vorhandenen Sicherheitskonzepten auf. Wir riefen eine Pandemie-Gruppe SRF ins Leben und koordinierten uns auch SRG-weit. Wir haben uns auch immer wieder abgesprochen, was ist im Tessin los, was in der Romandie. Eine Lösung, die für uns in der Deutschschweiz taugt, muss in der Romandie nicht auch die beste Lösung sein.
Während Corona habe SRF sehr gut in den kleinen Einheiten funktioniert ohne grosse Führung, sagen Programmschaffende. Teilen Sie diesen Eindruck?
Wichtig ist, dass jeder an seiner Stelle versucht, das Bestmögliche zu machen und auch dort die Entscheidungen zu treffen. Das hat sehr gut funktioniert.
Wie sah Ihre Führungsrolle in dieser Zeit aus?
Ich musste vor allem sicherstellen, dass die Informationen gut fliessen. Die Ansagen müssen klar und nachvollziehbar sein. Das ist ein wichtiger Punkt. Diese Kommunikation nahm viel Zeit in Anspruch. Sie nimmt auch mehr Zeit in Anspruch, als wenn ich einfach allein entschieden hätte.
«Ich glaube schon, dass Corona SRF verändern wird.»
Nathalie Wappler, Direktorin SRF
Ein Grossteil der SRF-Mitarbeitenden hat in den letzten Wochen von zu Hause aus gearbeitet. Es ging für einmal ganz ohne Grossraumbüros. Welche Rolle spielt Homeoffice künftig bei SRF?
Wir sind noch daran, die entsprechenden Learnings zu ziehen, unter anderem haben wir im Intranet eine Umfrage dazu gemacht. Mich interessiert es sehr zu hören, welche Erfahrungen die Mitarbeitenden gemacht haben, auch diejenigen, die immer vor Ort geblieben sind. Was ich aber jetzt schon sagen kann, ist, dass wir bestimmt auch in Zukunft nicht mehr überall hinreisen müssen für Sitzungen. Da haben wir gute Erfahrungen gemacht mit den Video-Calls. Bei Meetings vor Ort vereinbart man Folgetermine, um weitere Leute miteinzubeziehen. Das braucht viel Zeit. In Skype-Calls kann man einfach weitere Personen zuschalten und offene Punkte rasch und unkompliziert klären. Das habe ich als sehr effizient empfunden. Diese Erfahrungen sind wichtig gewesen und geben der Digitalisierung noch einmal enormen Schub.
Wie die ganze Branche sah sich auch SRF mit einem starken Rückgang der Werbung konfrontiert. Sie haben die Situation schon vor Corona «dramatisch» genannt. Was ist sie jetzt?
Als ich als Direktorin angefangen habe, dachte ich bereits, es sei eine aussergewöhnliche Situation. Nun haben wir durch Corona SRG-weit nochmals einen grösseren zweistelligen Millionenbetrag verloren. Das ist wirklich dramatisch für uns. Und enthebt uns überhaupt nicht der Aufgabe, dass wir wirklich sparen müssen und uns reformieren. Das bleibt. Und zwar in einem spürbaren Ausmass. Das geht nicht einfach plötzlich weg.
Gleichzeitig hat der Bundesrat der gesamten SRG 50 zusätzliche Millionen aus der Medienabgabe zugesprochen. Wie viel davon kriegt SRF und was bringt dieser Betrag?
Da sind wir noch in den Abklärungen. Die zusätzlichen Mittel aus der Medienabgabe, welche die SRG ab 2021 erhält, hat der Bundesrat unabhängig von Corona gesprochen. Diese Mittel kompensieren aber nicht alle Werbeeinbussen.
Seit Mitte Mai hat der Bundesrat erste Lockerungen der Corona-Einschränkungen im öffentlichen Leben zugelassen. Wie sieht der Fahrplan von SRF aus für die Rückkehr zur Normalität?
Wir haben uns für eine langsame, schrittweise Rückkehr entschieden. Seit dem 11. Mai sind 20 Prozent der Mitarbeitenden aus dem Homeoffice zurück an den Standorten, wo weiterhin die bekannten Abstandsund Hygienemassnahmen gelten. Die nächsten Schritte schauen wir uns etappenweise an: Wie gut funktioniert es mit den Sicherheitsmassnahmen? Werden sie überall eingehalten? Wenn alles gut läuft und insbesondere die Fallzahlen innerhalb und ausserhalb von SRF nicht steigen, dann werden wir auf 40 Prozent erhöhen. Es ist wahrscheinlich, dass es noch bis Mitte August dauern wird, bis für das Gros der Betroffenen der Übergang in die nächste Stufe der Rückkehr erfolgt, also maximal 40 Prozent der Mitarbeitenden aus dem Homeoffice zurückkehren können. Meine Aufgabe ist es, den Leistungsauftrag sicherzustellen und die Gesundheit der Mitarbeitenden zu schützen, beides hat höchste Priorität.
Wird Corona einfach eine Episode bleiben in der Geschichte von SRF oder ein prägender Einschnitt mit einem klaren Vorher und Nachher?
Ich glaube schon, dass Corona SRF verändern wird. Wir haben gelernt, schneller Sachen auszuprobieren und sie aber genauso schnell wieder zu verwerfen. Als das Publikum kein Bedürfnis mehr hatte nach Fitnesssendungen für zu Hause, verzichteten wir darauf. Die Geschwindigkeit und der Einfallsreichtum, mit denen unsere Teams nun Programm gemacht haben, werden SRF langfristig verändern.
Disclaimer: Das Interview mit SRF-Direktorin Nathalie Wappler fand aufgrund des Redaktionsschlusses bereits im Mai 2020 statt.
Zur Person
Nathalie Wappler (Kreuzlingen, TG) studierte an der Universität Konstanz Geschichte, Kunstgeschichte, Politikwissenschaften und Germanistik. Sie arbeitete später für 3sat, ARD und ZDF und stieg 2005 bei SRF ein, zunächst als Redaktorin beim «Kulturplatz». 2008 wurde Wappler Redaktionsleiterin der «Sternstunden», 2011 übernahm sie die Abteilungsleitung Kultur. 2016 wechselte sie zum Mitteldeutschen Rundfunk MDR, wo sie Programmdirektorin wurde. Im März 2019 trat sie ihr Amt als SRF-Direktorin an.
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