Corona – ein Erfahrungsbericht der «Klagemauer» Ombudsstelle
Die Coronapandemie sprengt auch den Rahmen der Ombudsfälle: Bis Mitte September gingen mit 760 Beanstandungen mehr ein als im ganzen Jahr 2019. Ein Grossteil bezog sich auf die Berichterstattung über Covid-19. Fehler unterliefen SRF ab und zu. Aber Verstösse gegen das Radio- und Fernsehgesetz lagen nicht vor.
Es begann im März ganz harmlos: «Die kritischen Fragen an den Direktor des Bundesamts für Gesundheit in der ‹Samstagsrundschau› waren völlig deplatziert. Die Landesregierung musste handeln. Sind wir froh, dass sie es tat», hiess es in den Beanstandungen zu Anfang des verfügten Lockdowns. In den ersten Wochen wurde die leiseste Kritik an Bundesrat Alain Berset und seine Entourage durch die Beanstanderinnen und Beanstander mehrheitlich als Verstoss gegen das Sachgerechtigkeitsgebot qualifiziert. Gerechtfertigt war bei genauerem Betrachten keine der eingegangenen Klagen. Hinzu kamen solche, die bei näherem Hinsehen eher einer Regionalkritik glichen, zum Beispiel, dass sich nicht nur Skigebiete im Berner Oberland vereinzelt gegen die verordnete Schliessung hinweggesetzt hatten, sondern auch manche im Wallis.
Die zweite «Corona-Phase» war interessanter. Da ging es um die Verteilung der Deutungsmacht zwischen Politik und Wissenschaft: Fachexperten würden Einfluss auf die Politik nehmen, was ihnen nicht zustünde, oder umgekehrt, die Politik würde sich zu wenig auf die Wissenschaft abstützen. Schleichend bahnte sich über die dritte Phase (Kritik an den verordneten Massnahmen) die äusserst aufwändige und zeitweilig mühsame vierte Phase an: die der Verschwörungstheoretiker, die beispielsweise die Grippe als weit gefährlicher betrachten als eine Infektion mit dem Corona-Virus oder Covid-19 gar als nicht existent wegreden. Als eine der moderateren Beanstandungen sei aus diesen Schreiben zitiert: «Ich werde jedes Mal eine Beanstandung einreichen, wenn ich den Eindruck habe, dass SRF manipulativ und unwahr berichtet.» Der Beanstander macht seine Warnung wahr und hat inzwischen über zehn Beanstandungen eingereicht. Überhaupt: Der Coronapandemie hat es die Ombudsstelle zu «verdanken», dass bis Mitte September 760 Beanstandungen eingegangen sind und damit schon mehr als im gesamten Jahr 2019.
Die Ombudsstelle-Co-Leitung hat also grosse Erfahrung mit der Corona-Berichterstattung von SRF. Wir teilen weitgehend die Einschätzung des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich. Dieses hielt im «Jahrbuch 2020 Qualität der Medien» fest: «Die Qualität der Corona-Berichterstattung unterscheidet sich zwischen den Medientypen. Positiv heben sich die Abonnementszeitungen und der öffentliche Rundfunk mit einer besonders hohen Vielfalt an Themen, einer höheren Relevanz und mehr Hintergrundberichterstattung ab. Der immer wieder zu hörende Vorwurf, der öffentliche Rundfunk berichte zu staatsnah, wird durch unsere Studie widerlegt. Zusammen mit den Sonntags- und Wochenmedien zeigte der öffentliche Rundfunk die grösste kritische Distanz zu staatlichen Akteuren». Nur lassen sich die Beanstanderinnen und Beanstander dadurch nicht beeindrucken.
Der mit Abstand häufigste Beanstandungsgrund betrifft den Umgang mit den Zahlen. Die Ansteckungszahlen in der Schweiz würden in keinen Zusammenhang gestellt mit den getesteten Personen. Diese Beanstandung ist zwar nicht falsch (inzwischen stellt das BAG das Zahlenmaterial aber differenzierter dar), aber an welchen Zahlen hätte sich SRF orientieren sollen, wenn nicht an den offiziellen des BAG? Ist das Sachgerechtigkeitsgebot gemäss Art. 4 Abs. 2 des Radio- und Fernsehgesetzes nur befolgt, wenn die Komplexität des erhältlichen Zahlenmaterials in allen Finessen auch verbal dargestellt wird? Was hiesse, dass ein Beitrag beispielsweise in der «Tagesschau» folgendermassen anmoderiert werden müsste: «Die Anzahl der nachgewiesenen SARS-CoV-2-Infektionen hängt generell vom Vorkommen der Infektionen in der Bevölkerung, der Teststrategie und der Anzahl der durchgeführten Tests ab. Eine Ausweitung der Testindikationen oder eine Erhöhung der Zahl durchgeführter Tests kann zu einem Anstieg der Fallzahlen führen, da zuvor unentdeckte Infizierte (auch ohne oder mit nur sehr milden Symptomen) erkannt werden.»
Die gebotene Reduktion einer so komplexen Materie hat also nichts mit einer zu wenig kritischen Berichterstattung zu tun, wie die Beanstanderinnen und Beanstander das mehrheitlich monieren.
Wie gehen wir Ombudsleute mit dieser wohl einmaligen Situation um, die sich über Monate hinweg erstreckt? Indem wir versuchen, die Redaktionen ihrer primären Aufgabe nachgehen zu lassen, nämlich ihrer journalistischen Arbeit. Was heisst, dass wir die unzähligen Beanstanderinnen und Beanstander höflich im Sinne eines Vermittlungsversuchs entsprechend unseres Auftrags, gleichzeitig aber bestimmt darauf aufmerksam machen, dass die Meinungsfreiheit zu einer offenen Gesellschaft gehört und Basis eines demokratischen Diskurses ist. Dass sie aber den Respekt und die Offenheit für abweichende Meinungen erfordert und die beanstandeten Sendungen – auch wenn es im einen oder anderen Beitrag durchaus Details zu kritisieren gäbe – nicht gegen Programmgebote gemäss Radio- und Fernsehgesetz verstossen.
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