Wir wissen es besser

Vielfältige Meinungen sind wichtig für die Demokratie. Doch wie bilden wir eine Meinung, wie einfach lässt sie sich ändern und welche Rolle spielen dabei die Medien? – Interview mit Sozialpsychologin Mariela Jaffé.

Frau Jaffé, warum haben Menschen verschiedene Meinungen? Heute stehen uns im Internet doch alle Fakten zur Verfügung, also sollten wir auch die gleiche Meinung haben.
Eine Meinung ist mehr als ein Fakt. Eine Meinung ist eine persönliche Ansicht, eine Überzeugung oder eine Einstellung in Bezug auf eine Person oder eine Sache. Es fliessen unterschiedliche Informationen ein, die zudem als unterschiedlich wichtig gewertet werden. Deshalb können sich die Meinungen sehr wohl unterscheiden – selbst, wenn alle die gleichen Informationen als Grundlage nutzen würden.

Wie bildet sich eine Meinung?
Eine Meinung entsteht nie im luftleeren Raum. Wir leben in einer Umwelt, in einer Kultur, sind geprägt durch die Sprache und die Geschichte, wie auch durch die Gesellschaft mit ihren Werten, Normen und Gesetzen. Auch unser Umfeld beeinflusst uns: unsere Familie, unser Freundeskreis, Lehrpersonen oder Arbeitskolleg:innen. Eigene Erfahrungen tragen ebenfalls dazu bei, wie auch Informationen, etwa aus Artikeln oder Büchern. Am häufigsten ist natürlich eine Mischung aus all dem.

Kann man sich überhaupt eine Meinung bilden, die unabhängig von unserem Umfeld, unserer Geschichte, unserer Lektüre ist?
Das frage ich mich auch. Irgendwoher kommt ja der Input für die Meinung, sonst wären es Reflexe. Wir nutzen ständig Informationen. Oft auch ganz unbewusst, aus der Gesellschaft, aus dem Umgang miteinander, zum Teil ohne dass uns jemand je gesagt hat, was die Werte oder Regeln der Gesellschaft sind. Wir nehmen das durch die Umgebung auf, weil wir immer in ein soziales Netzwerk eingebunden sind. Wichtig ist, dass man sich dessen bewusst ist.

«Es ist viel leichter, Informationen zu sammeln, die mich in meiner Meinung bestätigen, als dass ich mich hinsetze, um andere Positionen und Argumente zu lesen und schlussendlich vielleicht zu akzeptieren, dass meine eigene Meinung gar nicht so gut ist.»

Dennoch glauben wir am meisten uns selbst und tun uns schwer, uns zu hinterfragen. Weshalb?
Es ist viel leichter, Informationen zu sammeln, die mich in meiner Meinung bestätigen, als dass ich mich hinsetze, um andere Positionen und Argumente zu lesen und schlussendlich vielleicht zu akzeptieren, dass meine eigene Meinung gar nicht so gut ist. Einerseits ist es aufwendig und braucht Energie, andererseits ist es aber auch ein sozialer Prozess: Wenn ich zehn Jahre lang gesagt habe, ich finde Fleisch essen gut, und dann plötzlich meine Meinung ändere, könnte das bei meinen Freundinnen schlecht ankommen. Oft ergibt sich daraus ein Dilemma: Ich will mich richtig verhalten, aber auch dazugehören. Dabei besteht dieses Problem vielleicht gar nicht, man könnte falscherweise erwarten, dass Freunde negativ darauf reagieren.

Das heisst, auch wenn wir es besser wüssten, ändern wir die Meinung zum Teil nicht, weil wir Angst haben, die «falsche» Meinung zu vertreten?
Ja. Das Konformitätsexperiment des Psychologen Solomon Asch etwa zeigt, dass eine Einzelperson durch den Einfluss einer Gruppe sich einer offensichtlich falschen Aussage anschliesst, weil sie nicht von der Gruppe abweichen will. Die Forschung hat gezeigt, dass es einfacher ist, sich gegen eine Gruppe zu stellen, wenn man mehrere Personen ist. Da kann Social Media eine Hilfestellung bieten, da ich einfacher eine Gruppe finden kann, die meiner Meinung ist. Social Media ermöglicht die Vernetzung über unser früheres Umfeld hinaus.

Die Tendenz, gezielt nach Informationen Ausschau zu halten, die unsere Meinung bestätigen, nennt man in der Psychologie Confirmation Bias.
Genau. Gerade bei Unsicherheit suchen Menschen nach Bestätigung. Man sucht gezielt nach Informationen, die die eigene Meinung bestätigen, weil man sich so nicht selber hinterfragen muss. Widersprechende Informationen werden ausgeblendet. Das führt dazu, dass wir eher Zeitungen lesen, die unserer politischen Meinung entsprechen.

Die Meinungsbildung ist eine der wichtigsten Aufgaben der Medien im Hinblick auf eine funktionierende Demokratie. Worauf müssen Medien dabei achten?
Für die Meinungsbildung ist es wichtig, die Menschen zuerst einmal zu motivieren, sich mit den Informationen auseinanderzusetzen. Diese Motivation kann man erhöhen, indem man zeigt, dass ein Thema wichtig und relevant ist. Dabei gilt grundsätzlich, der Leserschaft balancierte Argumente beider Seiten zu bieten, die nach journalistischen Prinzipien überprüft worden sind.

Können Medienschaffende überhaupt unabhängig berichten oder fliesst unbewusst auch die eigene Meinung ein?
Bis zu einem gewissen Grad ist es möglich, indem man gezielt Argumente für beide Sichtweisen aufzeigt. Natürlich haben Medienschaffende oft eine eigene Meinung, aber für einen Beitrag können sie eine Person der Gegenseite interviewen. Dies ist ja ohnehin ein wichtiger Aspekt bei der Informationsverarbeitung: nicht nur eine Quelle beiziehen, sondern auch eine zweite oder dritte, um der Komplexität der Sache gerecht zu werden.

Was halten Sie von Kommentaren? Dürfen Medienschaffende ihre eigene Meinung kundtun?
Alle Arten von Informationen können dazu dienen, sich ein Bild von einer Sache zu machen. Sind Kommentare als solche klar gekennzeichnet, können sie durchaus spannend sein für die Leserschaft. Wichtig ist, dass auch in Kommentaren die Meinung gut begründet wird mit Argumenten sowie den Quellen, auf welche man sich bezieht. Zudem sollte man zeigen, dass es eine Gegenmeinung gibt, und sagen, warum man diese nicht für richtig hält. Eine grosse Rolle spielen aber auch die Aufmerksamkeit der Leserschaft sowie ihre Medienkompetenz: Wissen sie, was ein Kommentar ist, können sie verschiedene Formen von Medien – etwa Zeitungen oder Onlineblogs von Privaten – auseinanderhalten? Ich sehe es als gesellschaftliche Aufgabe, diese Fähigkeiten zu stärken; ein Beispiel für die Umsetzung könnte sein, in der Schule mehr Medienkompetenz zu unterrichten.

Einige blenden aber Argumente, die ihren Meinungen widersprechen, komplett aus. Extreme Beispiele sind etwa Leugner von Corona oder des Klimawandels.
Das finde ich sehr problematisch. Allerdings sollten wir Leugner des Klimawandels nicht ignorieren. Denn es führt dazu, dass wir diese Personen abwerten, statt ihre Argumente anzuschauen und aufzuzeigen, dass diese nicht stimmen. Man sollte Empathie für die andere Seite aufbringen, denn um der Verbreitung von falschen Informationen entgegenzuwirken, muss man zuerst die andere Meinung verstehen. Ausserdem ist es für eine Demokratie wichtig, aushalten zu können, dass es unterschiedliche Positionen gibt.

Dennoch herrscht das Gefühl, dass die Gesellschaft polarisierter geworden ist und gewisse Meinungen nicht mehr toleriert werden.
In der Tat warnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass es etwa in den USA während der Präsidentschaftswahl oder in Grossbritannien während Brexit zu einem Anstieg an polarisierenden Gruppierungen kam. Dies kann ein Zeichen von Unsicherheit, Stress und Belastung sein. Man sucht nicht mehr nur nach Informationen, um sich eine richtige Meinung auszubilden, sondern weil man ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit hat. Die Wahrheit zählt nicht mehr so viel. Fake News gab es zwar schon immer, aber durch die Globalisierung und Vernetzung hat deren Bedeutung zugenommen, denn sie können weiter gestreut werden.

«Social Media ist interessant, weil man sieht, wie viele Menschen einen Beitrag gelikt oder geteilt haben und mit welchen Emojis sie darauf reagierten. Das sind zusätzliche, soziale Informationen, die mich beeinflussen können.»

Welche Rolle spielt Social Media bei der Meinungsbildung?
Social Media ist deshalb interessant, weil diese Plattformen nicht nur dafür verwendet werden, um Informationen zu teilen, sondern weil man auch siehst, wie viele Menschen einen Beitrag gelikt oder geteilt haben und mit welchen Emojis sie darauf reagierten. Das sind zusätzliche, soziale Informationen. Ich kann somit sehen, wie beliebt ein Beitrag ist und was Menschen, die mir wichtig sind, darüber denken. All diese Informationen können mich beeinflussen. Sie sind ein Hinweis, dass dieser Beitrag für mich wichtig sein könnte. Dies geschieht aber eher, wenn die entsprechende Person die Kapazität oder Motivation nicht hat, sich selbst stärker mit einem Thema auseinanderzusetzen.

Also sind nicht Fake News an sich das Problem, sondern dass Menschen heutzutage stark kontrollieren können, welche Informationen sie überhaupt finden oder finden wollen. Ich kann sowohl eine Studie finden, die belegt, dass der Konsum von Kaffee gesund ist, wie auch eine, die besagt, dass er schädlich ist.
Ja, das ist ähnlich wie beim Confirmation Bias – wir sind keine Maschinen, die alle Informationen gleich und fair bewerten, sondern haben ein gewisses Set an Annahmen und vorgebildeten Meinungen. Wir interpretieren neue Informationen eher so, dass sie uns bestätigen. Bei den Medien wie bei der Wissenschaft geht es dabei um meine eigene Kompetenz: Ich muss mir überlegen, auf welche Quellen sich ein Beitrag stützt, was die Motivation dahinter sein könnte, wer es finanziert hat, wo der Beitrag publiziert wurde. Im besten Fall überprüfe ich die Quellen der Informationen selber und konfrontiere sie mit gegensätzlichen Aussagen.

Im Alltag kann man jedoch nicht jede Information selber überprüfen.
Nein, deshalb braucht es ein gewisses Grundvertrauen in die Medien. Man kann kleine Checks machen, sich überlegen, ob ein Argument plausibel ist, schauen, wie andere Medien das Thema darstellen.

Das tun wir aber selten, denn unsere Meinung – insbesondere die politische Meinung – in Frage zu stellen, fällt uns besonders schwer.
Ja, weil es oft keine objektive, unanfechtbare richtige Lösung gibt. Zu manchen Themen gibt es verschiedene Studien, die verschiedene Effekte zeigen, die in verschiedenen Ländern mit verschiedenen Systemen verschiedene Auswirkungen haben. Wir leben in einer wahnsinnig komplexen Welt, auch politische Phänomene sind oft sehr kompliziert, einfache Antworten gibt es selten. Das ist aber gut.

Das heisst, es ist in unserem Interesse, dass es verschiedene Meinungen gibt?
In einer Gesellschaft ist es wichtig, dass es Debatten gibt und man insbesondere bei politischen Fragen verschiedene Perspektiven berücksichtigt. Das Ziel ist, kreative Lösungen zu finden, die alle Gruppen miteinbeziehen – auch Personen, die ein ganz anderes Leben führen als wir.

Mariela Jaffé ist Sozialpsychologin an der Universität Basel. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich insbesondere mit Urteilsund Entscheidungsprozessen, der Nutzung von Entscheidungshilfen sowie mit Fake News.

Text: Eva Hirschi

Bild: Colourbox.de (Illustration), zVg (Foto)

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