Muss die Fiktion «sachgerecht» sein?
Gewalt, Totschlag, Diskriminierung – das sind erzählerische Bestandteile vor allem von Krimis. Dies gefällt nicht allen: Immer wieder landen Beanstandungen bei der Ombudsstelle. Esther Girsberger und Kurt Schöbi, die beiden Ombudsleute der SRG Deutschschweiz, erläutern, ob die Darstellung von Gewalt in der Fikton sachgerecht sein muss.
Krimis sorgen für Nervenkitzel, Krimis fesseln und unterhalten, Krimis sind beliebt. Den Dienstagskrimi bei SRF verfolgten gemäss Halbjahresbilanz 2022 durchschnittlich 455 000 Zuschauerinnen und Zuschauer (31,9 Prozent Marktanteil), den «Tatort» am Sonntagabend 392 000. Zum Vergleich: Die «Tagesschau»-Hauptausgabe sahen 684 000, «10vor10» 377 000 Zuschauerinnen und Zuschauer.
Die «Krimi-Zahlen» zeigen das grosse Vergnügen der Schweizerinnen und Schweizer bei Verbrechen und Totschlag im Fernsehen. Für die meisten liegt der besondere Reiz wohl im Kontrast zwischen Alltag und Fiktion und im damit verbundenen eskapistischen Erlebnis. Treffend beschreibt dies Frank Schätzing, deutscher Schriftsteller: «Nicht, dass wir blutrünstig wären. Wir mögen es einfach, die aus den Fugen geratene Welt wieder in Ordnung gebracht zu sehen.»
Gewalt sorgt für Diskussionen
Aber die Welt ist nach 90 Minuten nicht für alle Zuschauerinnen und Zuschauer einfach wieder in Ordnung. Einige von ihnen wenden sich mit ihrer Unzufriedenheit oder ihrem Ärger an die Ombudsstelle. Sie monieren, dass rücksichtslos geflucht und geraucht wird, dass auch Polizistinnen und Polizisten sich nicht immer an Strassenregeln halten, oder plädieren dafür, dass exzessive Gewalt in einem öffentlichen Sender grundsätzlich nicht gezeigt werden dürfe. Andere stören sich weniger an «Äusserlichkeiten», sondern an gesellschaftskritischen Inhalten oder machen darauf aufmerksam, dass Taten wie ein Suizid Nachahmerinnen und Nachahmer finden könnten und deshalb nicht gezeigt werden sollten. Oft ist eine Kritik auch mit einem Verweis auf die Jugendgefährdung gekoppelt.
Für uns Ombudsleute stehen bei Beanstandungen gegen die Fiktion wie z. B. gegen den Krimi zwei Fragen im Vordergrund: Welche Mindestanforderungen an die Programminhalte gemäss Radio und Fernsehgesetz (RTVG) gelten auch für die Fiktion und sind sie mit der Anwendung gegen Informationssendungen vergleichbar? Fiktion wird umgangssprachlich als Gegenbegriff zur Realität empfunden, Fiktion ist die Schaffung einer eigenen Welt, Handlung und Figuren sind (meistens) erfunden und entsprechen einer Idee. Deshalb ist die «Sachgerechtigkeit», wie sie im RTVG beschrieben wird – «Redaktionelle Sendungen mit Informationsgehalt müssen Tatsachen und Ereignisse sachgerecht darstellen, so dass sich das Publikum eine eigene Meinung bilden kann» – bei der Fiktion nicht anwendbar.
Widersprüche zur Realität sind Teil des Drehbuchs und kein Verstoss gegen die Sachgerechtigkeit im Sinne des RTVG. Ähnlich verhält es sich mit der Achtung der Menschenwürde oder dem Gebot, dass Rassenhass nicht geschürt werden darf. Diskriminierung und Rassenhass z. B. kommen in der Fiktion häufig vor, Grundrechte werden Mal für Mal mit Füssen getreten und sind oft der Grund für Mord und Totschlag. Auch wenn die Gewalt dabei wiederholt hemmungslos und (für viele) unerträglich dargestellt wird, verherrlicht wird sie damit nicht zwingend. Die Täterschaft wird gejagt und zur Rechenschaft gezogen, die Anwendung von Gewalt führt selten zum Ziel.
Spezialfall Suizid
Begeht ein Mensch im Film Suizid, so ist dies unabhängig vom Motiv ein emotionales Ereignis und hinterlässt ein beklemmendes Gefühl. Die Frage nach dem «Warum» stellt sich dabei mehr als bei jedem kaltblütig geplanten und brutal durchgeführten Mord. Deshalb überrascht nicht, dass gegen Suizidszenen immer wieder Beanstandungen eingereicht werden. Im Speziellen wird auf den Nachahmereffekt hingewiesen, auch Werther-Effekt genannt. So soll unter anderem im Zusammenhang mit der mehrteiligen ZDF-Serie «Tod eines Schülers» im Jahr 1981 (ein Schüler wirft sich vor einen Zug; jede Folge setzt sich mit einer anderen Perspektive des Suizids und dessen Vorgeschichte auseinander) eine statistische Häufung von Schienensuiziden unter Jugendlichen beobachtet worden sein.
Sollen Suizide aus diesem Grund in der Fiktion nicht gezeigt werden, wie dies gemäss den Publizistischen Leitlinien bei Informationssendungen – mit wenigen Ausnahmen – der Fall ist? Wir meinen: Doch, sie sollen vorkommen. Wie der Krieg, die Folter, das Töten, das Unerträgliche überhaupt zum Alltag gehören, sind leider auch die Selbsttötung oder der Selbsttötungsversuch in der modernen Gesellschaft sehr präsent. Würden sie «verboten», würde auch die Auseinandersetzung mit der Thematik eingeschränkt. Zudem soll das Fernsehen in Filmen nicht primär eine heile Welt zeigen, während sich die Wirklichkeit ganz anders präsentiert. Das wäre unrealistisch und würde vortäuschen, dass es nicht gibt, was man nicht sieht oder hört.
Eine Frage der Perspektive
Ungeachtet dessen gebührt der Machart bei der Beurteilung von Gewaltszenen ganz spezielles Augenmerk. Filmsprachliche Elemente wie Einstellungsgrösse der Kamera, Wahl der Perspektive und Arrangement der Tonspur beeinflussen die Wirkung auf die Zuschauerinnen und Zuschauer massgeblich. Zum Beispiel wird der Suizid bei «Wilder» (Staffel 4) bewusst «beobachtend», aus der Distanz gefilmt, und der Aufprall des Körpers wird nicht gezeigt. Auch die Tonspur ist zurückhaltend bespielt: Beim Fall herrscht eine lange Stille, welche die Starre in den Gesichtern der Zuschauenden spiegelt, und
der Aufprall wird durch den Schnee auf dem Dach massiv gedämpft und zusätzlich durch die Beimischung von «sphärischen» Tönen verfremdet. Die Szene ist weder «voyeuristisch» noch «heldenhaft» dargestellt.
Solche Merkmale sind auch hinsichtlich des Kinder- und Jugendschutzes zentral. Zusammen mit Triggerwarnungen wie dem roten Balken oder dem Hinweis auf der Onlineplattform Play Suisse von SRF «Dieses Programm kann verstörend wirken und ist für Kinder nicht geeignet» können sie mithelfen, Filme betreffend «Kinder- und Jugendtauglichkeit» einzuschätzen.
Die Fiktion, sei es im Film, in der Literatur oder in der Malerei, zeichnet eine «Parallel- oder Alternativwelt» zur Realität. Sie kann einfach nur unterhalten, aber auch herausfordern und zum Nachdenken animieren. Die Gesellschaft braucht beides.
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