Sorgfältiger «DOK» zu Heim- und Verdingkindern
Gegen den «DOK»-Film «Heim- und Verdingkinder – Die Aufarbeitung eines grossen Unrechts» ging eine Beanstandung ein. Die Beanstanderin gehört zur Familie, in der eines der im «DOK» porträtierten Kinder aufgewachsen war. Die Ombudsstelle vermittelt.
Als Heim- und Verdingkinder erlebten tausende von Menschen in der Schweiz im 20. Jahrhundert grosses Unrecht. Sie wurden entrechtet, erniedrigt und missbraucht. Nach Jahrzehnten entschuldigte sich die Schweiz, arbeitete auf und leistete eine gewisse Wiedergutmachung. «DOK» porträtierte im Film «Heim- und Verdingkinder – Die Aufarbeitung eines grossen Unrechts» mehrere ehemalige Verdingkinder, darunter auch Berthy Schnegg. Frau Schnegg sprach erstmals öffentlich über die Übergriffe, die sie als Kind in ihrer Pflegefamilie erfahren hat.
Vor den Kopf gestossen
Die Beanstanderin ist selbst Nachkommin der Familie, in der Schnegg ihre Kindheit verbracht hat und hört zum ersten Mal von diesen Vorwürfen gegen ihre Familie. Sie äussert in ihrem Schreiben ihre tiefe Betroffenheit darüber, dass Frau Schnegg in ihrer Familie derartiges Leid erfahren habe, fühlt sich jedoch gleichzeitig vor den Kopf gestossen. Denn Berthy Schnegg pflegte auch im Jahr 2020 noch Kontakt zu der Pflegefamilie. Allerdings lebt ausser Frau Schnegg niemand mehr, der ihre Kindheit bewusst miterlebt hat. Die Beanstanderin kritisiert nun, dass die Perspektive der Pflegefamilie nicht in den Film eingeflossen ist.
«Leid und Unrecht» erfahren
Die Redaktion hat zum Schreiben der Beanstanderin eine ausführliche Stellungnahme verfasst. Sie weist auf die hohe Glaubwürdigkeit der Schilderungen von Berthy Schnegg hin. So seien im Zuge der Produktion ausführliche Vorgespräche mit Berthy Schnegg sowie ihrem Ehemann und ihrem Sohn geführt worden. Die Erzählungen von Frau Schnegg seien sehr glaubwürdig und wurden von ihrer Familie bestätigt. Zudem habe sie 2017 ein Gesuch für den sogenannten «Solidaritätsbeitrag» des Bundes gestellt. Ihr Gesuch wurde geprüft, für glaubwürdig befunden und bewilligt. Per Schreiben vom 29. Mai 2018 stellte das Bundesamt für Justiz im Namen der Schweiz offiziell fest, dass Berthy Schnegg «Leid und Unrecht angetan worden» sei. Dieses Leid zeige sich auch in Berthy Schneggs Krankengeschichte. Sie leidet nach wie vor unter posttraumatischen Belastungsstörungen und hat einen – glücklicherweise misslungenen – Suizidversuch hinter sich.
Nachdem Berthy Schnegg das Haus der «Verding-Eltern» mit 16 (zum frühestmöglichen Zeitpunkt) verlassen habe, sei sie vom «Adoptiv-Vater» immer wieder zu Arbeitseinsätzen aufgeboten worden. Frau Schnegg sei diesen Aufforderungen auch Jahre später stets nachgekommen. Nach Auffassung der Redaktion hängt dieses auf den ersten Blick paradoxe Verhalten damit zusammen, dass Berthy Schneggs Wille früh systematisch gebrochen worden sei. Sie habe gelernt, bedingungslos zu gehorchen. Nach Aussage ihres Mannes sei Frau Schnegg nach solchen Besuchen jeweils «für zwei Wochen total durch den Wind» gewesen.
Keine Rückschlüsse möglich
In Bezug auf den Vorwurf der einseitigen Darstellung weist die Redaktion darauf hin, dass alle Beteiligten der Pflegefamilie unterdessen verstorben seien und sich Berthy Schnegg Zeit ihres Lebens ausser ihrer Familie und ihren Ärzt*innen niemandem anvertraut habe. Es gäbe daher ausschliesslich Schneggs Sichtweise auf das, was vor 60 Jahren passiert ist. Diese Sichtweise habe die Redaktion sorgfältig geprüft und dargestellt. Dadurch, dass die Pflegefamilie im Film nicht namentlich genannt wird, sei zudem sichergestellt, dass keine Rückschlüsse gezogen werden könnten. Im Film sei zudem nicht einmal erwähnt worden, dass es Nachkommen gibt.
Verständliche Belastung
Die Ombudsstelle kann nachvollziehen, dass sich die Beanstanderin vor den Kopf gestossen fühlt, wenn Berthy Schnegg mit den Nachkommen ihrer Verding-Eltern in Kontakt bleibt und gleichzeitig öffentlich von diesen so stark belastenden Erlebnissen aus ihrer Kindheit und Jugend erzählt. Nach Meinung der Ombudsstelle wird jedoch dieses Verhalten gerade auch durch den «DOK»-Film verständlich gemacht.
Auch dass die Familie durch den Film belastet wird, erschliesst sich der Ombudsstelle durchaus. Allerdings betreffe dies das private Verhältnis der ehemaligen Pflegefamilie und Berthy Schnegg. Durch den Verzicht auf die Nennung jeglicher Namen könne nicht von «öffentlicher Belastung» gesprochen werden.
Sorgfältige Arbeit
Weiter sieht die Ombudsstelle keinerlei Hinweise darauf, dass die Geschichte von Berthy Schnegg nicht sorgfältig recherchiert worden sei. Zudem habe auch das Bundesamt für Justiz Schneggs Geschichte geprüft und für glaubwürdig befunden. Nach Ansicht der Ombudspersonen wäre Schnegg zudem kaum zu den im «DOK»-Film gemachten Aussagen bereit gewesen, wenn nicht ausführliche Vorrecherchen und Gespräche stattgefunden hätten.
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