Nie zu alt für Neues?

In seiner neusten Studie ging das Gottlieb Duttweiler Institut der Frage nach, wie sich die Offenheit gegenüber Neuem mit dem Alter verändert. Was bedeutet das für die Medien? Interview mit Jakub Samochowiec, einem der Studienautoren.

Jakub Samochowiec, Sie haben in einer Studie mit dem Titel «Nie zu alt?» die Offenheit gegenüber Neuem untersucht. Und, ist man nie zu alt für Neues?
Auf jeden Fall ist man nie für alles zu alt. Je nach Bereich gibt es aber grosse Unterschiede. Während wir bis ins hohe Alter erstaunlicherweise eine relativ grosse Offenheit bezüglich der Wohnsituation feststellen konnten – zumindest laut eigenen Aussagen –, hat sich gezeigt, dass gerade bei Apps und neuen Technologien die Offenheit rasch abnimmt.

Wann ist man «zu alt» für Apps und neue Technologien?
Der Begriff «alt» ist relativ. Im Fall von TikTok, der Trend-App für Kurzvideos, kann er aber schon für über 30-Jährige gelten ...

Warum hat das mit dem Alter zu tun?
Jüngere Menschen sind stärker auf der Suche, sei dies nach einer Gemeinschaft, einer Beziehung, einem Sinn, einer Identität. Das wird vielfach in sozialen Medien, in WhatsApp-Gruppen oder TikTok-Videos ausgehandelt.

Hat das auch mit dem sozialen Druck zu tun?
Natürlich. Es geht darum, nichts zu verpassen, nicht ausgeschlossen zu sein, sondern mitreden zu können.

Der Autor und seine Studie

Dr. Jakub Samochowiec ist Senior Researcher und Speaker am Gottlieb Duttweiler Institut. Der promovierte Sozialpsychologe analysiert gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Veränderungen mit den Schwerpunkten Entscheidung, Alter, Medien und Konsum.

Für die Studie «Nie zu alt?» hat das Gottlieb Duttweiler Institut eine Umfrage bei je 1000 Personen aus der Schweiz und aus Deutschland zwischen 16 und 74 Jahren durchgeführt. Die Umfrage ist bevölkerungsrepräsentativ nach Alter und Geschlecht und fand online im Juli 2019 statt. Die Studie wurde im Mai 2020 veröffentlicht.

Dennoch spielt bei der Technologie das Alter in gewissen Bereichen eine weniger starke Rolle, wie zum Beispiel bei Airbnb oder Uber. Wie erklären Sie sich das?
Der Nutzen von Uber und Airbnb hat nicht hauptsächlich mit der sozialen Aushandlung von Sinn und Gemeinschaft zu tun. Wenn niemand meiner Freunde Uber oder Airbnb benutzt, schränkt das meinen Nutzen nicht ein. Bei TikTok ist das anders, das ist, als wäre ich die einzige Person, die ein Faxgerät hat – allein kann ich damit nichts anfangen. Deshalb müssen Dinge, die einen sozialen Aspekt haben, eine kritische Masse erreichen.

Also unterscheiden Sie je nach Art des Nutzens?
Genau. Einerseits den individuellen Nutzen – was nützt es mir, wenn ich etwas allein zuhause konsumiere? Andererseits den Nutzen eines Konsums, der auf einer Bühne stattfindet. Auf dem Pausenplatz steht das erste Kind, das mit etwas Neuem spielt, im Rampenlicht – dann wollen andere das Spielzeug auch, um ebenfalls Aufmerksamkeit zu erhaschen, und die letzten kaufen es sich dann eher zur sozialen Schadensbegrenzung, um nicht ausgeschlossen zu sein.

Wieso spielt sich der Konsum jüngerer Personen eher auf einer Bühne ab?
Sie befinden sich in einer Phase der Identitätsbildung, und diese wird nun mal zu grossen Teilen auf einer Bühne ausgehandelt. Man muss seine Identität den Mitmenschen an den Kopf werfen, um zu schauen, wie sie darauf reagieren. Bei älteren Menschen ist die Identität meistens schon gefestigter, sie haben nicht mehr das Bedürfnis, all die Sachen auszuprobieren. Sie haben sich auf ein Gebiet fokussiert und versuchen eher, dort ihren Status auszubauen, weshalb sie nicht mehr jeden Hype mitmachen.

«Es kann Brüche im Leben geben, wo die Aushandlung der Identität erneut wichtig wird, zum Beispiel wenn eine Beziehung zu Ende geht oder man pensioniert wird.»

Dennoch haben mittlerweile fast alle Menschen von Jung bis Alt ein Smartphone oder ein Tablet. Ist das nicht widersprüchlich?
Nein, denn die Nutzung eines Smartphones muss nicht auf einer Bühne stattfinden. Dies kann zwar der Fall sein, wie eben mit TikTok, aber man kann das Smartphone auch nur dafür verwenden, um Ferienfotos seiner Enkel auf WhatsApp anzuschauen. Doch auch hier gibt es keine Regel: Es kann Brüche im Leben geben, wo die Aushandlung der Identität erneut wichtig wird, zum Beispiel wenn eine Beziehung zu Ende geht oder man pensioniert wird. Wer mit 35 eine langjährige Beziehung beendet, wird dann vielleicht doch noch einen TikTok-Account eröffnen oder eine Dating-App installieren.

Wie sieht das beim Medienkonsum aus?
Auch bei Medien muss man zwischen dem individuellen Nutzen und dem Nutzen auf der Bühne unterscheiden. Social Media vermischen das Ganze. Die beiden Nutzungsformen werden kombiniert, weil man durch das, was man postet, durchaus zu einer Identitätsbildung beitragen kann. Dasselbe gilt für Podcasts und Zeitungen: Sie haben einen Nutzen für mich, selbst wenn ich die einzige Person bin, die sie konsumiert. Die Bühnennutzung spielt aber dann eine Rolle, wenn andere über einen bestimmten Artikel oder Podcast sprechen und ich nicht mitreden kann, weil ich den nicht kenne.

Was für eine Rolle spielt die Technologie der Medien an sich punkto Offenheit?
Man kann sehen, dass bei wirklich älteren Menschen auch die rein technische Schwierigkeit eine Rolle spielt. Wie lade ich einen Podcast herunter, wie höre ich dort weiter, wo ich letztes Mal aufgehört habe? Das sind Hürden, die jüngere Menschen nicht haben.

«Die Bedienung von Smartphones ist nicht für alle einfach. Das könnte sich in Zukunft ändern, etwa durch Sprachbefehle.»

Wird es für ältere Menschen somit immer schwieriger, mit der technologischen Entwicklung mitzugehen?
Nicht unbedingt, der technologische Fortschritt kann den Zugang auch erleichtern. Am Anfang waren Computer alles andere als benutzerfreundlich, man musste Codes eingeben, erst später kamen die Maus, die Icons dazu, es reichte ein Klick. Dennoch ist die Bedienung von Smartphones – noch dazu auf einem so kleinen Bildschirm – nicht für alle einfach. Das könnte sich in Zukunft ändern, etwa durch Sprachbefehle. Man muss nicht mehr auf dem Smartphone nach Podcasts suchen, sondern kann einfach sagen «Spiel mir das neuste ‹Echo der Zeit› vor» – die Person weiss mitunter vielleicht nicht einmal, was ein Podcast ist, hört aber jeden Tag das «Echo der Zeit» als Podcast.

Wird der sogenannte Digital Gap, die digitale Kluft zwischen jüngeren und älteren Menschen, in Zukunft also kleiner?
Es kann sein, dass immer mehr Menschen Zugang zu digitalen Angeboten haben, der Gap aber trotzdem grösser wird, denn dieser ist nicht nur rein technischer Natur: Der Nutzen eines digitalen Angebots kann sehr eingeschränkt bleiben. Ältere Menschen haben zwar Facebook, wissen aber nicht, dass es dort auch einen Markt für Wohnungen gibt. Oder aber sie gehen davon aus, dass die App von SRF nur zum Fernsehschauen da ist – allein schon darum, weil sie vielleicht den Unterschied von linearem und nicht linearem Fernsehen nicht verstehen.

Was bedeutet das für die Medien? Auf der einen Seite braucht es digitale Innovation, um die jüngere Zielgruppe anzusprechen, gleichzeitig besteht die Gefahr, die Älteren abzuhängen ...
Das ist in der Tat ein Dilemma für die Medien. Gewisse Formate werden noch eine Zeit lang funktionieren, aber irgendwann ist es damit vorbei. Darum gilt es, neue Formate bereits jetzt einzubinden und den Spagat zwischen den Generationen zu schaffen, indem man den Content auf verschiedene Arten nutzen kann. In der Informatik spricht man von Responsive Webdesign, also dass sich Websites automatisch an das jeweilige Endgerät anpassen. Diese Art der «Responsiveness» müsste auch für die Medieninhalte funktionieren, etwa ob Audio und Video oder nur Audio gespielt wird oder ob der Beitrag von einer 80-jährigen Frau oder einem 20-jährigen Mann angeschaut wird. Man wird in Zukunft mit mehr unter-schiedlichen Schnittstellen rechnen müssen, wie Sprachinterfaces oder Augmented Reality.

«Weil es ein Überangebot an Informationen gibt, braucht es jemanden, der einen durch diesen Dschungel führt.»

Verändert sich somit auch die Rolle der Medien?
Medien haben vermehrt wieder eine Gatekeeper-Funktion. Weil es ein Überangebot an Informationen gibt, braucht es jemanden, der einen durch diesen Dschungel führt und zeigt, was man anschauen sollte. Grosse Medienmarken wie SRF können eine Autorität darstellen, Fake News aufdecken, Informationen und Ereignisse einordnen. Gerade diese Einordnung wird in Zukunft wohl eine viel grössere Rolle spielen. Auch müssen Medien versuchen, mehr auf ihr Publikum einzugehen.

Wie meinen Sie das?
In den 1980er Jahren gab es im Fernsehen an gewissen Samstagabenden die Möglichkeit eines Wunschfilms: Man konnte von drei Filmen auswählen, eine Nummer anrufen, und dann wurde der Film mit den meisten Anrufen gezeigt. Heute wären die Möglichkeiten doch eigentlich noch viel grösser. Auch in Bezug auf den Journalismus: Es wäre schön, wenn man konkrete Fragen stellen könnte, welche die Redaktion dann recherchiert. Das hilft gegen falsche Informationen und schafft Vertrauen gegenüber der Medienmarke, denn man fühlt sich wahrgenommen. Auch das ist eine Form von Responsiveness.

Besteht da nicht die Gefahr, dass dann gewisse Themen gar nicht mehr berücksichtigt werden?
Man müsste ja nicht nur das machen. Das ist wie beim Wunschfilm: Da bestimmte man auch nicht das ganze Filmprogramm, sondern nur einen Film pro Woche. Beim Wunschfilm kommt hinzu, dass eine Vorselektion getroffen wurde. Wie die Demokratisierung der Medien aber genau umgesetzt werden müsste, gilt es durch Experimente herauszufinden.

Bereits heute kann man Nachrichten um eine beliebige Zeit konsumieren, wie auch Filme dank Videoplattformen. Gleichzeitig stellt sich aber eine «decision fatigue» ein, man ist der Wahl müde. Ironischerweise startet Netflix mit «Netflix Direct» in Frankreich lineares Fernsehen. Kommt es vielleicht gar zu einer Rückkehr zu den alten Traditionen?
Der Musik-Streamingdienst Spotify hat ja auch eine Playliste der Woche, sprich ich muss nicht das nächste Lied wählen, sondern Spotify weiss, welche Musik mich interessiert. Das könnte auch bei den Medien hinzukommen: Statt dass ich Programme auswähle, weiss das Smartphone in Zukunft vielleicht, dass ich mich eher für Geopolitik, aber nicht so für Sport interessiere, dass ich die Nachrichten lieber am Abend als am Morgen höre usw. Dann wird das Smartphone zu meinem persönlichen Gatekeeper.

Unterstützung bei Medienkompetenz nötig?

Die Mitgliedgesellschaften der SRG Deutschschweiz bieten laufend verschiedene Kurse und Anlässe an, welche bei der Aneignung von Medienkompetenz – auch im Alter – unterstützen. Ergreifen Sie die Chance, ein neuartiges Angebot kennenzulernen: Aufgrund der aktuellen Lage werden diverse Anlässe zurzeit virtuell via Zoom angeboten:

www.srgd.ch/agenda

Die Geschäftsstellen helfen bei Fragen gerne weiter.

Text: Eva Hirschi

Bild: GDI Gottlieb Duttweiler Institute/Sandra Blaser

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