Ombudsfall: Journalismus muss nicht immer neutral sein

In der Hauptausgabe vom 28. September 2022 berichtete die «Tagesschau» über die «Referenden» in vier umkämpften und teils besetzten Regionen der Ukraine (Luhansk, Donezk, Saporischja, Cherson) über den Anschluss an Russland. Ein Beanstander war mit der Berichterstattung der Korrespondentin Luzia Tschirky nicht zufrieden. Er kritisiert, sie würde einseitigen Journalismus betreiben. Die Ombudsleute unterstützen die Beanstandung nicht.

Im «Tagesschau»-Beitrag «‹Referenden› Ukraine: Zustimmung zum Anschluss an Russland» ordnet Luzia Tschirky ein, was eine Annexion der besetzten Gebiete für die Menschen dort bedeuten würde. Ein Beanstander kritisiert, die Korrespondentin betreibe «keinen objektiven, neutralen Journalismus», sondern einen «einseitigen Journalismus» und vertrete mit ihren Aussagen 1:1 die ukrainische Regierung.

Journalismus soll Missstände klar benennen

Die Berichterstattung über einen Krieg sei eine grosse Herausforderung für Journalistinnen und Journalisten, betont die «Tagesschau»-Redaktion. Gerade in der Kriegsberichterstattung seien hohe journalistische Standards unabdingbar. Luzia Tschirky arbeite, wie alle SRF-Nachrichtenjournalistinnen und -journalisten nach den professionellen journalistischen Grundsätzen und Publizistischen Leitlinien von SRF. Sie arbeite auch in der Ukraine unabhängig. Um sich selbst ein Bild zu machen, sei sie immer wieder im Land und stütze sich vor Ort auf ihre eigenen Quellen und Kontakte.

Wenn es um Angriffe auf das demokratische Grundverständnis gehe und Menschenrechte verletzt würden, sei es nicht die Aufgabe des Journalismus «neutral» zu berichten, sondern dies unmissverständlich zu benennen. Luzia Tschirkys Aufgabe sei es in diesem Krieg, Fakten zu präsentieren, Zusammenhänge aufzuzeigen und Klartext zu reden, wer welche Verantwortlichkeiten habe und wer welche Kriegsverbrechen begehe. Sie tue dies unmissverständlich, wofür sie weitherum respektiert und gelobt werde. Im letzten Jahr wurde Luzia Tschirky von der Branche zur «Journalistin des Jahres» gekürt. Dass die Korrespondentin unkritisch die Position der ukrainischen Regierung wiedergebe, sei nicht korrekt. So habe Tschirky zum Beispiel beim Angriff auf die Kertsch-Brücke die offizielle ukrainische Stellungnahme klar in Frage gestellt.

Bei Verstoss gegen das Völkerrecht ist keine unparteiische Berichterstattung möglich

Die Ombudsleute führen aus, dass der Krieg in der Ukraine für die meisten überraschend gekommen sei. Wie es so weit kommen konnte und wer daran welche Schuld trägt, müsse geklärt werden, dies werde jedoch Monate, wenn nicht Jahre dauern. Trotzdem müsse aber über den Krieg berichtet werden. Unabhängig aller Fragen nach der Schuld gelte das Völkerrecht, welches Russland mitunterzeichnet hat und dieses verbiete einen Angriffskrieg. Der Beanstander erwarte von Luzia Tschirky einen «objektiven» und «neutralen» Journalismus. Angesichts des Verstosses gegen das Völkerrecht sei «neutral» im Sinne von «unparteiisch» oder «wertfrei» nicht möglich. Der Anspruch an eine sachgerechte Berichterstattung schliesse dies aber nicht aus. Daher seien in diesem Fall Begriffe wie «Angriffskrieg», «Verbrechen gegen das Völkerrecht» und «Scheinreferenden» sachgerecht.

Im kritisierten Teil der «Tagesschau» wird Luzia Tschirky als Korrespondentin vor Ort gefragt, was eine Annexion der besetzten Gebiete für die Menschen dort bedeuten würde. Die Korrespondentin antworte aus Sicht der Menschen, die sich zur Ukraine bekennen. Dass sich diese Perspektive grösstenteils mit der Meinung der Regierung der Ukraine decke, überrasche nicht.

Daher können die Ombudsleute keinen Verstoss gegen die Sachgerechtigkeit gemäss des Radio- und Fernsehgesetzes feststellen.

«Taggesschau» vom 28.09.2022

Beitrag «‹Referenden› Ukraine: Zustimmung zum Anschluss an Russland» (ab Timecode: 6:42 Min)

Text: SRG.D/ae

Bild: SRG.D/Illustration Cleverclip

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