Ist «Reporter» über Autismus zu weit gegangen?

In «Reporter» vom 3. Mai 2023 werden zwei Kinder mit einer Autismusspektrumstörung porträtiert. Der Fokus liegt dabei auf den Schwierigkeiten im Schulalltag. Eine Beanstanderin kritisiert, dass die Reporterin in einer Szene nicht aufgehört habe, dem autistischen Mädchen Fragen zu ihrem Befinden zu stellen, obwohl sie das Mädchen damit offensichtlich überfordert habe.

In «Autismus und Schule – (K)eine Liebesbeziehung» begleitet eine Reporterin zwei Kinder mit einer Autismusspektrumstörung (ASS), Kira und Nino, in deren Alltag, zu Hause und in der Schule. Die Reporterin stellt den Kindern auch immer wieder Fragen zu ihrem Erleben und ihren Erfahrungen. Eine Beanstanderin, selbst Mutter eines autistischen Sohnes, stört sich an einer Szene, bei welcher die Reporterin mit Kira deren Aquarium betrachtet und nicht aufhört Kira Fragen zu ihrem Befinden zu stellen, bis die Situation unangenehm und beklemmend wird. Die Beanstanderin empfand diese Situation als extrem menschenunwürdig.

Reporterin wollte sensibilisieren

Thema des Filmes ist das Leiden von Kindern und Jugendlichen im Autismusspektrum, wenn ihre besonderen Bedürfnisse an Schulen, in der Lehre oder am Arbeitsplatz zu wenig berücksichtigt werden. Die beanstandete Szene sei aus einem für den Alltag von autistischen Menschen typischen «Missverständnis» zwischen Kira und der neurotypischen, d.h. nicht-autistischen Reporterin entstanden, so die Redaktion. Eine Eskalation der Situation sei zu keiner Zeit geplant oder beabsichtigt gewesen. Die Reporterin habe sich im Vorfeld des Films sehr ausführlich über das Thema Autismusspektrumstörung und die Besonderheiten im Umgang mit autistischen Menschen informiert.

Dem beanstandeten Interview sei ein langes und detailliertes Gespräch über Zierfische vorangegangen, erläutert die Redaktion. Die Reporterin sei davon ausgegangen, dass sie Kira nach diesem Gespräch über Fische auch noch Fragen zu ihrem Erleben ihrer Mitwelt stellen könne, auch wenn dies nicht ausdrücklich abgesprochen worden war. Dies sei in ähnlichen Interviewsituationen mit nicht-autistischen Menschen üblich. Für Kira aber gelte, wie für fast alle Menschen mit Autismus, «das gesprochene Wort». Die Redaktion führt weiter aus, implizite Selbstverständlichkeiten seien für Autist:innen schwer oder gar nicht nachvollziehbar, genau wie Lesen zwischen den Zeilen, Zwischentöne oder Ironie. So komme es immer wieder zu den Kommunikationspannen, die den Menschen im Spektrum das Leben so erschweren würden.

In der kritisierten Szene sei die Reporterin vor der Wahl gestanden, das Interview sofort abzubrechen, als sie Kiras Überforderung bemerkt habe, oder zumindest zu versuchen, Kira ihre Besonderheit in eigenen Worten beschreiben zu lassen. Kira habe geäussert, dass sie die Fragen der Reporterin eigentlich schon beantworten wolle. Dies habe die Reporterin zum Anlass genommen, ihre Fragen immer wieder anders zu stellen, da sie Kiras Beklemmung gespürt habe.

Den Entscheid, die Szene im Film zu zeigen begründet die Redaktion wie folgt. Durch das Sichtbarmachen solcher «Kommunikationspannen» habe die Reporterin eine Sensibilisierung für die besonderen Bedürfnisse von Menschen im Autismusspektrum erzielen wollen. Die Redaktion betont, dass Kiras Eltern nichts gegen die Ausstrahlung dieser Szene einzuwenden gehabt hätten. Die Reporterin habe unimittelbar nach der Aufnahme der Szene mit Kiras Vater über das Erlebte gesprochen. Dieser habe die Szene als stellvertretend für Kiras Leiden in ihrem Alltag angesehen, der nicht auf die Bedürfnisse von autistischen Menschen ausgelegt sei.

Szene beklemmend, aber nicht demütigend

Die Ombudsleute können die Empfindung der Beanstanderin nachvollziehen. Als Mutter eines autistischen Sohnes erlebe sie vermutlich allzu oft ein Fehlverhalten von neurotypischen Menschen gegenüber Menschen mit ASS und müsse miterleben, wie diese darunter leiden. Eine böse Absicht oder bewusste Provokation der Reporterin können die Ombudsleute jedoch nicht feststellen. Um mehr über Kira zu erfahren, habe sie eine für das Mädchen angenehme und vertraute Atmosphäre schaffen wollen. Bei neurotypischen Kindern funktioniere dies sehr gut, führe aber bei Kindern im Autismusspektrum nicht gleichermassen zur erhofften entspannten Situation. In diesem Fall zum Gegenteil, Kiras Fokus war auf das Aquarium gerichtet, etwas anderes hatte parallel dazu keinen Platz.

Zum Zeitpunkt der Aufnahme habe die Reporterin bereits viele Stunden mit Kira verbracht. Die vorangegangenen Sequenzen würden eine gesprächsbereite und offene Kira zeigen. Als Zuschauer:in gewinne man den Eindruck, dass Kira der Reporterin vertraue, so die Ombudsleute. Dies bleibe auch währen der heiklen Situation beim Aquarium spürbar. Zwar gebe Kira zu verstehen, dass sie im Moment bei den Fischen sei und nicht über sich und das, was sie nervt, sprechen wolle. Trotzdem gebe sie Teilantworten, welche die Reporterin zum Anlass nehme, weiter nachzufragen. Die Ombudsleute fügen an, es sei gut möglich, dass diese Interpretation von Kiras Antworten ebenfalls eine Fehleinschätzung durch neurotypische Personen sei.

So ist das Fazit der Ombudsleute: Die Szene sei beklemmend, aber menschenunwürdig und damit herzlos oder demütigend sei sie nicht. Sie können keinen Verstoss gegen das Radio- und Fernsehgesetz feststellen.

«Reporter» vom 3. Mai 2023: «Autismus und Schule – (K)eine Liebesbeziehung»:

Beanstandete Szene: Timecode 19:25

Tags

Alle Schlussberichte der Ombudsstelle jetzt ansehen

Kommentar

Kommentarfunktion deaktiviert

Uns ist es wichtig, Kommentare möglichst schnell zu sichten und freizugeben. Deshalb ist das Kommentieren bei älteren Artikeln und Sendungen nicht mehr möglich.

Weitere Neuigkeiten