Verharmlosung von «Long Covid»?
Zu einem Beitrag in der «Tagesschau» vom 19. Januar 2024 über einen Durchbruch in der Erforschung von Long Covid gingen 27 Beanstandungen bei der Ombudsstelle ein. Die Beanstandenden stören sich in erster Linie an den Aussagen des zu Wort gekommenen ehemaligen Covid-Patienten. Sie würden ein falsches Bild von der Krankheit verbreiten und diese verharmlosen. Der Interviewpartner sei nicht repräsentativ für die Mehrzahl der von Long Covid Betroffenen. Die Ombudsleute geben den Beanstandenden recht.
Anlass für den «Tagesschau»-Beitrag war ein Durchbruch in der Grundlagenforschung von Long Covid. Forschende von Universität und Universitätsspital Zürich konnten einen sogenannten Biomarker im Blut von Patienten ermitteln. Mit dessen Hilfe erhofft man sich dereinst eine Diagnostik von Long Covid oder allenfalls eine Therapiemöglichkeit.
Neben Wissenschaftern und einer SRF-Wissenschaftsredaktorin kommt im Beitrag ein von Long Covid-Betroffener zu Wort, der von seiner Erkrankung und seiner späteren Genesung berichtet.
Betroffene fühlen sich diskreditiert
Während der Teil über den Forschungsdurchbruch von den Beanstander:innen nicht kritisiert und von einigen sogar gelobt wird, zieht vor allem der interviewte Betroffene den Unmut auf sich. Er ist in den Augen der Beanstander:innen – die meisten leiden selber an Long Covid – kein repräsentativer Vertreter der Krankheit. Er scheine mehr von post-akuten Covid-Beschwerden betroffen zu sein als von Long Covid. So scheine er nicht unter der für Long Covid typischen Belastungsintoleranz zu leiden. Vor allem seine zweite Aussage, dass er mit Velofahren am Wochenende und mit Arbeiten wieder «zwäg» geworden sei und damit, dass man etwas mache und nicht faul herumsitze, empfinden die Beanstandenden als Schlag ins Gesicht. Viele Betroffene seien aufgrund ihrer Symptome gar nicht in der Lage, sich körperlich zu betätigen.
Die Aussage des Interviewten diskreditiere Betroffene, zementiere das Stigma und trüge dazu bei, dass die Schwere und Verbreitung von Long Covid weiter herabgespielt würden, beklagen die Beanstander:innen. Zudem stünde die Anmerkung des Interviewten, Bewegung sei besser als ein Medikament, im Widerspruch zu aktuellen Erkenntnissen über Long Covid, die zeigten, dass medizinische Behandlungen häufig unerlässlich und eine Aktivierung oft fatal und kontraproduktiv sei.
«10vor10» bringt Folgebeitrag
Die verantwortliche Redaktion zeigte sich betroffen von den Reaktionen der Beanstander:innen. Sie habe deshalb aus Respekt vor den Schwerstbetroffenen den monierten Beitrag im Player gesperrt. Zudem habe man aufgrund der Schilderungen ihrer Leiden das Thema Long Covid in einem «10vor10»-Beitrag vom 13. Februar 2024 nochmals aufgegriffen.
Folgebeitrag im «10vor10» vom 13. Februar 2024:
Folgebeitrag im «10vor10» vom 13. Februar 2024:
Der Fokus des «Tagesschau»-Beitrags habe auf dem Forschungsdurchbruch gelegen, so die Redaktion. Es sei nicht um Symptome oder eine Kontroverse gegangen. In einem kurzen «Tagesschau»-Beitrag müsse man sich beschränken. Man habe in zahlreichen anderen Beiträgen immer wieder verschiedene Aspekte von Long Covid aufgegriffen und verschiedene Betroffene ausführlich zu Wort kommen lassen.
‹Echter› Long Covid-Patient
Der interviewte Betroffene gelte als eines der ersten Schweizer Long-Covid-Opfer. Nebst organischen Problemen habe er jahrelang unter Erschöpfung und Konzentrationsproblemen gelitten. Gemäss Redaktion entsprächen diese Symptome denjenigen, die nebst anderen bei Long-Covid-Betroffenen zu finden seien. Dem Publikum sei klar geworden, dass der Mann inzwischen weitgehend genesen sei. Seine Aussage, er habe selbst substanziell zu seiner Genesung beigetragen, sei nicht als Stigmatisierung oder Verunglimpfung anderer Betroffener gemeint. Sie spiegle seine ganz persönliche Erfahrung und Perspektive wider, was für das Publikum erkennbar sei. Seine Erfahrung sei nicht absolut untypisch oder grundsätzlich falsch: Bei der Long Covid-Therapie könne wohldosiertes körperliches Training eine wichtige Rolle spielen. Der Beitrag suggeriere nicht, dass das, was dem Interviewpartner geholfen habe allen anderen Betroffenen helfe.
Man habe in der gesamten Berichterstattung immer wieder aufgegriffen, dass Long Covid eine schwerwiegende und langwierige Krankheit sei, bemerkt die Redaktion. Es dürfe deshalb von einem gewissen Vorwissen des Publikums in Bezug auf diese Krankheit und ihrer Symptome ausgegangen werden.
Auswahl Interviewpartner nicht verständlich
Die Ombudsleute bezeichnen die wissenschaftlichen Erklärungen der Forschenden sowie die Einordnungen der SRF-Wissenschaftsredaktorin als verständlich und erhellend. Weniger verständlich ist für sie die Wahl des Betroffenen. Im ersten Einspieler erzähle dieser über seinen Aufenthalt auf der Intensivstation und seine organischen Probleme während der Covid-Erkrankung. Das hat in den Augen der Ombudsleute nichts mit Long Covid zu tun. Im zweiten Teil des Beitrags gehe es um die Hoffnung, die Erkenntnisse liessen sich vielleicht für eine Therapie und die Entwicklung eines Medikaments nutzen. Die Aussage des Betroffenen, er sei durch Velofahren und Arbeiten und nicht durch Medikamente wieder fit geworden, sei verwirrlich. Nach Auffassung der Ombudsleute hätte man diese Aussage, etwa mittels Off-Text, einordnen oder eine weitere Stimme und Perspektive bringen sollen.
Man habe so den Eindruck erhalten, es brauche keine weiteren Erkenntnisse, um von Long Covid zu gesunden. Man könne die Krankheit mit Sport und Arbeit bekämpfen. Erwiesenermassen gäbe es jedoch nicht wenige Erkrankte, die weder in der Lage seien, Sport zu betreiben noch wieder zu arbeiten.
Anders als die Redaktion sind die Ombudsleute der Auffassung, dass die wiederholte, sachliche und ausgewogene Berichterstattung von SRF über Long Covid hier nicht ins Feld geführt werden könne. Der aufgrund der bahnbrechenden Forschungsergebnisse ausgestrahlte «Tagesschau»-Beitrag müsse in sich selbst beurteilt werden. Die Ombudsleute stellen deshalb eine Verletzung des Sachgerechtigkeitsgebots fest.
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